Berichte/Features
Woche 35 - 39 / 27.8. - 30.9.07
Inventionen II
Berliner Festival Neuer Musik
1. Hildegard Westerkamp: Whisper Study / 10:43 / 1975-79
2. Salvatore Sciarrino: Codex purpureus / 5:52 / 1968-1983
3. John Cage: Music for Piano 55-63 / 6:31 / 1956
4. Sainkho Namtchylak: Roots and Vibrations / 8:06 / 1994
5. Joe Jones: Solar Orchestra / 7:32 / 1982/90
6. John Cage: Music for Piano 78-84 / 5:36 / 1956
7. Giacinto Scelsi: Aus 20 Canti del capricorno - Nr. 1 & 4 / 4:59 / 1962-72
8. Masanori Fujita: Aus Jû-Jû-Shin / 23:05 / 1986
9. John Driscoll: A Hall is All / 5:28 / 1985
Werkkommentare und Biographien zum aktuellen Sendebeitrag
1. Hildegard Westerkamp: Whisper Study / 10:43 / 1975-79
für zweispuriges Tonband
Text: Norbert Ruebsaat
Inventionen 1986, Autorenproduktion
"Whisper Study liegt ein Satz aus dem Buch Naam oder Das Wort des indischen Mystikers Kirpal Singh zugrunde: "When there is no
sound, hearing is most alert" ("Wenn es nichts zu hören gibt, ist das Gehör am schärfsten"). Von den
Hornklängen in der Ferne abgesehen, wurden alle Klänge aus meiner Stimme abgeleitet, die eben jenen Satz und das
Wort "silence" flüstert. Whisper Study begann als Einübung grundlegender Tonbandtechniken im analogen Studio der
1970er Jahre, mit der Flüsterstimme als Ausgangsmaterial. Je länger ich aber mit diesem ruhigen Material arbeitete,
desto stärker wurde mein Interesse, ein Stück über Stille, Hörwahrnehmung und akustische Einbildungskraft
zu komponieren. Ich wollte herausfinden, wo der Klang aufhört und sein Abbild beginnt. Das von Whisper Study angeregte
Gedicht When there is no sound von Norbert Ruebsaat wurde dem letzten Teil des Stückes beigefügt. In dieser Version
wird das Gedicht von mir selbst gesprochen. Die es umgebende Klanglandschaft aus Schritten im Schnee und Eiszapfen entstand
für meine (1978-79 für das 'Vancouver Cooperative Radio' produzierte) Sendereihe Soundwalking."
Hildegard Westerkamp
2. Salvatore Sciarrino: Codex purpureus / 5:52 / 1968-1983
für Streichtrio
Mitglieder des Arditti String Quartett
Inventionen 1994, Aufnahme: Westdeutscher Rundfunk Köln 1983
"Ein Werk, das über viele Jahre ausgebrütet wurde, Wünsche, die zu lange hingehalten wurden, Bilder, die
unvollständig blieben - all das liefert dennoch klare Konturen, als hätte es soeben erst Klanggestalt angenommen. Wie
oft schrieb ich auf dem Leuchtschweif jener Emanation der Klänge durch das Gewimmel geistiger Räume, die man
Schweigen nennt. Manchmal war es eine tiefere Spur, eine Furche; dann wieder löste sich das Formulierte unbestimmbar auf
in kaum merkliche Lumineszenzen, flüchtige Seelenstreifen.Wer kann sagen, wann sie jemals vom Dunkel in uns absorbiert
sein werden?Vergeblich unterscheiden wir zwischen Visionen und Blindheit: das Licht, das uns blendet, überschreitet
diese Schwelle mit einer Schleppe von Illusionen.Hört ihr nicht auch, was im Klang sichtbar ist?"
Salvatore Sciarrino, Übersetzung: Daniele Dell'Agli
3. John Cage: Music for Piano 55-63 / 6:31 / 1956
Herbert Henck, Klavier
Inventionen 1992, Kunstkopf-Aufnahme: TU Berlin
"In Music for Piano und späteren Stücken gehört Struktur nicht mehr zum kompositorischen Kalkül. Es wird
nicht der Standpunkt eines zur Vereinigung der Gegensätze unternommenen Tuns eingenommen, sondern vielmehr der eines als
Prozess zu charakterisierenden und im wesentlichen absichtslosen Tuns. Geist, obgleich seiner Kontrollmacht entkleidet, west
immer noch an. Was macht er, nun, da er nichts zu tun hat? Und was geschieht mit einem Stück Musik, wenn es absichtslos
verfertigt wird? [...] In Abwesenheit jeglicher Struktur fand jenes Stück, den Erfordernissen der Gelegenheit entsprechend,
innerhalb einer beliebigen Zeitdauer statt. Die Dauer einzelner Klänge wurde deshalb gleichfalls unbestimmt belassen.
Notiert wurden sie als ganze Noten im Raum, wobei der Raum die Zeit andeutet, aber nicht vermisst. Geräusche waren
gefüllte Notenköpfe ohne Hals."
John Cage. War 1972 Gast des Berliner Künstlerprogramms des DAAD.
4. Sainkho Namtchylak: Roots and Vibrations / 8:06 / 1994
Sainkho Namtchylak, Stimme
Heinz Lieb, John Preininger, Schlagzeug
Inventionen 1994, Kunstkopf-Aufnahme: TU Berlin
DER BAUM DER KUNST
"Was unterscheidet das menschliche Bewusstsein von der übrigen lebendigen Natur? Die Kunst. Kunst ist eine schöne
Pflanze oder ein Baum. Im Zeitalter der rohen Geschwindigkeit schützt diese Pflanze vor der Verunreinigung durch
Vereinheitlichung und Gleichgültigkeit, sie weckt die Phantasie des Publikums.Sie macht das Bewusstsein der Menschen zum
ganzheitlichen und WAHREN GUTEN. Der Baum der Kunst ist der Baum der Weisheit. Wie die Wurzeln des Baumes in die Tiefe der Erde
reichen, so halten sich die Wurzeln der Kunst in der Geschichte der Tradition, in der Geschichte der Menschheit, und sein
KÖRPER strebt der Zukunft entgegen. Wir präsentieren Ihnen Musik - die Verbindung von Intonationen, Emotionen und
Klang als Blüten, Blätter und Früchte. Es gibt keine Kunst ohne Erfahrung, ohne Sie, verehrtes Publikum.
Hören Sie und sehen Sie, leben Sie bitte mit und lassen Sie sich inspirieren. In dieser Konstellation sind wir Blätter
und Früchte, und Ihre Anteilnahme schützt den schönen Baum der Kunst, DEN BAUM DER WEISHEIT."
Sainkho Namtchylak.
War 1994 Gast des Berliner Künstlerprogramms des DAAD.
8. Masanori Fujita: Aus Jû-Jû-Shin / 23:05 / 1986
für 15 buddhistische Mönche
1. Ishoteiyoshin, 4. Yuiunmugashin, 7. Kakushinfushoshin, 10. Himitsushogonshin
Karyobinga Shô-Myô-Gruppe, Tokyo (Shingon-Sekte, Buzan-Schule)
Leitung: Maki Ishii
Inventionen 1986, Kunstkopf-Aufnahme: TU Berlin
"Jû-Jû-Shin ist die verkürzte Fassung des Himitsu-Mandara-Jû-Jû-Shin-ron, des Hauptwerks des
Mönches Kûkai, Begründers der buddhistischen Shingon-Sekte (jap. shingon: 'das wahre Wort'), das er 830
verfasst hat und das einen Auszug aus circa 600 Themenbereiche umfassenden Aufzeichnungen darstellt. Es erläutert
zum einen die 10 Stufen der geistig-religiösen Entwicklung des Gläubigen im Shingon-Buddhismus und ist zugleich
auch eine Art Abriss der Geschichte des Denkens jener Zeit, eine vergleichende Abhandlung, in der Kûkai allgemein
umfassend die um 800 in Indien, China und Japan existierenden verschiedenen Richtungen des Buddhismus, der Philosophie und
des Denkens kritisch betrachtet. Diese 10 Entwicklungsstufen sind folgendermaßen definiert:
1. Ishoteiyoshin - die Welt vor der buddhistischen Logik
2. Gendojisaishin - die Immanenz der buddhistischen Logik
3. Yodomuishin - das Erwachen des religiösen Sinns
4. Yuiunmugashin - das Verstehen des Sich-Selbst-Vergessens
5. Batsugoinjushin - das Ablegen der eigenen Unwissenheit
6. Taendaijoshin - die Erlösung des Menschen vom Leiden
7. Kakushinfushoshin - alles ist Leere, Nichtigkeit, Vergänglichkeit
8. Ichidomuishin - alles ist Wahrheit, Realität
9. Gokumujishoshin - die Überwindung der Gegensätze
10. Himitsushogonshin - die ewige, grenzenlose Entfaltung. In der letzten Stufe, der Stufe 10, erfolgt schließlich die
Subsumtion und Transzendierung des gesamten Geistes. Dies ist die Entwicklung zur Welt des Mandala, wo diagrammartig in
konzentrierter Form der Weg zur Erreichung des Zustandes des Satori (Erleuchtung) aller Buddhas aufgezeichnet wird."
Masanori Fujita. War 1985 Gast des Berliner Künstlerprogramms des DAAD.
9. John Driscoll: A Hall is All / 5:28 / 1985
Klanginstallation
Inventionen 1986, Kunstkopf-Aufnahme: TU Berlin
"Seit 1976 entwickle ich Stücke und Installationen mit rotierenden Lautsprecherinstrumenten. Dabei handelt es sich um
robotische Instrumente zur fern- oder programmgesteuerten Schallabstrahlung. So kann, unter Einbezug der Resonanzen und
Reflexionen des Aufführungsraumes, ein abwechslungsreiches Klangfeld entstehen. Bei der Gestaltung und Konstruktion dieser
Instrumente arbeitete ich eng mit dem Designer Peter Labiak zusammen. "A Hall is All" entstand für die 'Biennale des
Friedens' im Hamburger Kunstverein. Zur Kontrolle der Lautsprecherbewegungen und zur Erzeugung der Schallsignale wurden,
zusätzlich zu den rotierenden Lautsprecherinstrumenten, Mikrophone und Eigenbau-Elektronik verwendet. Als resultierender
Klang entstand, in Abhängigkeit von den Resonanzen des Aufführungsraumes, eine ruhige melodische Tonfolge. Weil in
der Installation ausschließlich die Raumresonanzen verwendet werden, ist ihre Dauer beliebig; der Klangreichtum hängt von
den jeweiligen architektonischen Eigenheiten des Installationsraumes ab. Die Rotation der Lautsprecher erzeugt eine kinetische
skulpturale Präsenz und eine klangliche Komponente. Auf übermäßige Schallentwicklung im Installationsraum
reagiert die Arbeit durch Einstellen der Tonproduktion, bis der Klang abebbt. Seine erste vollständige Aufführung mit
allen vier rotierenden Lautsprechern erlebte A Hall is All 1986 im Rahmen des 'Inventionen'-Festivals."
John Driscoll. War 1985/86 Gast des Berliner Künstlerprogramms des DAAD.
Hören Sie auf diesem Sendeplatz Reportagen von Festivals, Symposien, Kongressen und Ausstellungen rund um die vielfältige Szene der elektroakustischen Kunst.