Sounds only
Woche 35 - 39 / 27.8. - 30.9.07
Tonbandstücke von Andre Bartetzki und Clemens von Reusner
Andre Bartetzki
1. Rondeaux Trouvés / 2000 / 14:50
8-Kanal Tonband, STEAM - Hochschule für Musik "Hanns Eisler" Berlin
2. Zungenschlag / 2003 / 13:40
8-Kanal Tonband, Privatstudio
3. Expression / 2006 / 11:30
8-Kanal Tonband, Privatstudio
4. Jazvuk / 2007 / 19:30
radiophones Tonbandstück, Privatstudio
Clemens von Reusner: Werke, die mit dem eigens entwickelten Programm KMP (KANDINSKY MUSIC PAINTER) komponiert wurden
1. Atlantik / 1990 / 03:55
2. FM-C 004 / 1992 / 07:59
3. Monolog 1 / 1990 / 00:55
4. Monolog 2 / 1990 / 00:23
5. Monolog 3 / 1990 / 00:57
6. Monolog 4 / 1990 / 00:47
7. Monolog 7 / 1990 / 00:33
8. OHMS IVb / 1993 / 03:25
9. OHMS V / 1989 / 02:34
10. OLKT-R / 1991 / 03:58
11. REIF / 1992 / 09:26
12. RIPLEY / 1993 / 05:56
Werkkommentare und Biographien zum aktuellen Sendebeitrag
Bartetzki: Rondeaux Trouvés
Der Titel Rondeaux Trouvés ("gefundene Rondos") bezieht sich sowohl auf der Konzept des "objet trouvé"
("gefundenes Objeckt") in Pierre Schaeffers musique concrète (wie schon früher in der Bildenden Kunst bei Duchamp)
als auch auf die Trouvères oder Troubadours ("Erfinder") im mittelalterlichen Frankreich, die - dem deutschen
Minnesänger verwandt - Poeten, Komponisten und Sänger in einem waren und zumeist Liebeslieder zur Ehre einer
adligen Dame verfassten. In diesem Stück wurden Aspekte verschiedener Rondo-Formen, u.a. Kompositionen mittelalterlicher
Trouvères (Adam de la Hale und Jehannot de Lescurel) mit einfachen periodischen und kreisenden Bewegungen kombiniert,
um verschiedene Klänge zu strukturieren und organisieren: Aufnahmen einiger rotierender Objekte, vokale und instrumentale
Rundtänze aus der Bretagne, Frankreich. Vor allem durch Filterung und Convolution wurde versucht, jeweils zwei Vertreter
der unterschiedlichen Ausgangsklangmaterialien (rotierende Objekte, wie Diskette, Roulette-Kugel und Karussell, sowie
bretonische Instrumente, wie Drehleier, Bombarde oder Cornemuse) miteinander agieren und Klangeigenschaften austauschen zu
lassen. Alle Klänge sind fast ständig in räumlicher Bewegung, sie rotieren oder pendeln entweder langsam und
gemeinsam in Gruppen bzw. Blöcken oder sie bewegen sich sehr schnell und unabhängig voneinander, wobei die einzelne
Bewegung in der Wahrnehmung zurücktritt und statt dessen eine Art räumlicher Textur erscheint.
Bartetzki: Zungenschlag
Das Material für dieses Stück sind schwingende Zungen, wie sie als eines der grundlegenden
Schwingungserzeugungsprinzipien bei einem Großteil der Musikinstrumente vorkommen. Wir kennen freischwingende Zungen
(Akkordeon, Harmonium, Harmonika-Instrumente, Maultrommeln, Kalimba, manche Orgelpfeifen), aufschlagende Zungen
(Klarinette, Saxophon, Lingualpfeifen bei Orgeln) oder gegenschlagende Zungen (Oboen-instrumente, Lippen der
Blechbläser, Stimmlippen im menschlichen Kehlkopf). Die Resonanzfrequenz der Zungen bestimmt, manchmal in Zusammenhang
mit einem angekoppelten Hohlraum oder Rohr, den Tonhöheneindruck. Die Stimmlippen oder -bänder sind zusammen mit
dem Vokaltrakt und der Zunge die Voraussetzungen für das Hervorbringen von verschiedenen Vokalen, Konsonanten und
modulierbaren Tonhöhen - physikalisches Fundament von Sprache und Gesang, somit auch Musik. Gemäß der heute
allgemein anerkannten Evolutionstheorie haben sich die Sprache und die Sprachwerkzeuge herausgebildet, weil sie der
menschlichen Rasse einen Überlebensvorteil verschafft hat. Ist Musik ein Ergebnis der natürlichen Zuchtwahl? Gibt es einen
Zusammenhang zwischen Kunst und Evolution? Der Linguist und Kognitionswissenschaftler Stephen Pinker: Ich vermute, daß
Musik akustischer Käsekuchen ist.
Anmerkungen zur Realisation:
Das Klangmaterial, in der Hauptsache flatternde Plastik-, Holz- und Metalllineale sowie einige wenige andere "Zungenklänge",
wurde nahezu vollständig in SuperCollider organisiert und verarbeitet. Die so entstandenen mehrkanaligen
Prozeßschichten wurden abschließend mit Nuendo zum Gesamtablauf des Stückes zusammengefügt.
Für die zeitliche Organisation der einzelnen Prozesse kamen dabei hauptsächlich Algorithmen der generativen
Grammatik, sogenannte L-Systeme, zum Einsatz, die mithilfe der Pattern-Objekte in SuperCollider formuliert wurden.
L-Systeme und sogenannte Transformationsgrammatiken sind aus der Linguistik, aber auch in der Biomathematik und ebenso in der
Musikwissenschaft als Analysewerkzeuge zur Beschreibung grundlegender Strukturen komplexer Systeme bekannt, wie die Grammatik
menschlicher Sprachen, der Aufbau von Sinfonien oder das Wachstum von Pflanzen. Ich habe dieses Verfahren eingesetzt, um
verschiedene, vom Klanginhalt abhängige Zeitstrukturen zu generieren, die eine gewisse €hnlichkeit zur Sprache und zum
Miteinandersprechen entwickeln. Die eigentliche Klangbearbeitung umfasste Techniken wie (Formant-)Filterung, Convolution,
Intermodulation, Granularsynthese u.a.
Bartetzki: Expression
"Expression" lautet der Titel des letzten Stücks der gleichnamigen letzten Schallplatte, die John Coltrane mit seinem
Quartett 1967 kurz vor seinem Tod aufgenommen hat. Der Titel "Expression" stammt von ihm selbst. Befragt nach erklärenden
Texten zu den Stücken auf diesem Album, antwortete Coltrane: with absolutely no notes. (...) By this point I don't know
what else can be said in words about what I'm doing. Let the music speak for itself.
Bartetzki: Jazvuk
"Jazvuk" wurde von Michal Rataj für die Reihe PremEdice Radioatelier beim Tschechischen Rundfunk in Auftrag gegeben.
Ausgangsmaterial waren eine Sprachaufnahme des bekannten tschechischen Zungenbrechers "Strc prst skrz krk"
(Sprecherin: Lenka Zupková) sowie mehrere Außenaufnahmen, die ich im April 2007 in den belebten Strassen von Prag
gemacht habe. Den fast nur aus geräuschhaften Phonemen bestehenden tschechischen Satz zerlegte ich in Einzellaute, aus
denen ich mit Hilfe granularer Resynthese jeweils kleine verschiedene charakteristische Klangszenen entwickelte. So
kristallisierten sich um jedes der 4 Worte die einzelnen Abschnitte des Stückes. Die realen Strassengeräusche,
die vor allem durch das vielsprachige Stimmengewirr der Touristen gekennzeichnet sind, verschieben sich immer wieder zu
surrealen aus den Phonemen gebildeten Klanglandschaften. Ein Spiel mit realen und imaginären Klangräumen,
akustischen Perspektiven und Distanzen.
von Reusner: Das Programm KMP
Grundlage dieser Arbeiten sind grafische Partituren. Mit dem Programm KANDINSKY MUSIC PAINTER war es möglich, spezifisch
grafische Verfahren und Werkzeuge zur Generierung von musikalischen Strukturen anzuwenden und diese musikalischen Strukturen
und ihre formalen Proportionen, die als grafische Pixel repräsentiert waren, Veränderungsprozessen zu unterwerfen.
Die Realisation erfolgte via MIDI über angeschlossene Synthesizer.
Andre Bartetzki
Geboren 1962 in Berlin, studierte Tonmeister an der Hochschule für Musik "Hanns Eisler" Berlin. Noch während des
Studiums begann er dort mit der Einrichtung eines Studios für elektroakustische Musik (STEAM), das er bis 2002 leitete.
1999-2004 lehrte er am elektronischen Studio (SeaM) der Weimarer Musikhochschule und an der Bauhaus-Universität Weimar.
Er gab darüber hinaus Kurse zur Klangsynthese und algorithmischer Komposition an der TU-Berlin, HU-Berlin, der Hochschule
für Musik und Theater Rostock, der Akademie der Künste Berlin, am Podewil Berlin sowie in Lissabon, Bukarest und
Prag. Neben seiner Lehrtätigkeit arbeitet er als Programmierer, Sounddesigner und Toningenieur mit Klangkünstlern
sowie Ensembles, Solisten, Komponisten und Veranstaltern im Bereich der Neuen Musik zusammen, u.a. Kammerensemble Neue
Musik Berlin, Ensemble work in progress, United Berlin, Kairos Quartett, William Forman, Helmut Zapf, Hanna Hartmann,
Yueyang Wang, Matthias Jann, Johannes Wallmann, Miguel Azguime, Lenka _upková, Günter Heinz, Akademie der
Künste, Kryptonale Berlin, Musikakademie Rheinsberg, Randspiele Zepernick. Seine Software CMask für algorithmische
Komposition wird weltweit verwendet und diente anderen Programmierern als Modell für eigene Entwicklungen. Seine eigenen
musikalischen und künstlerischen Projekte umfassen Klang- und Videoinstallationen, u.a. für das museum der dinge
Berlin, für die singuhr hÏrgalerie Berlin und wiederholt für das Randspiele-Festival in Zepernick, Tonbandmusik
sowie live-elektronische Musik. Seine Musik wurde auf internationalen Festivals für Neue und Computermusik gespielt,
wie z.B. Kryptonale Berlin, LAC 2007 Berlin, ICMC2002 Göteborg, ICMC2005 Barcelona, ICMC2007 Kopenhagen,
BIMESP 2002 São Paulo, SICMF 2003, 2004 und 2005 Seoul, Nuits d'hiver 2005 Marseille, ACMC 2005 Brisbane. Er wurde
Finalist bei Wettbewerben für elektroakustische Musik in Bourges und São Paulo. 2004 erhielt er ein
Kompositionsstipendium vom ZKM Karlsruhe, 2007 ein Aufenthaltsstipendium am Künstlerhaus Lukas in Ahrenshoop. Zwischen
1997 und 2004 war er Mitglied im Vorstand der Deutschen Gesellschaft für elektroakustische Musik (DEGEM) und dort u.a.
für die Herausgabe der DEGEM-Mitteilungen verantwortlich.
Clemens von Reusner
Jahrgang 1957. Studium Musikwissenschaft und Lehramt Musik. Tätigkeit als Musiklehrer und in der Musiklehrerausbildung, sowie
als Musiker in unterschiedlichen Ensembles, Komponist und Autor. Mitglied der DEGEM und des FORUMS KLANGLANDSCHAFT. Seit
Ende der 70er Jahre Auseinandersetzung mit elektronischer Musik, Kompositionen in unterschiedlichen Genres, Hörspiele,
Soundscape-Kompostionen. Ende der 80er Jahre Entwicklung der Musiksoftware KANDINSKY MUSIC PAINTER mit der die hier
vorgestellten Arbeiten realisiert wurden.
Hier werden Produktionen aus Archiven der Elektroakustischen Musik, wie z.B. dem Archiv der DEGEM oder dem IDEAMA- und dem DEGEM-Archiv des ZKM, dem Archiv des elektronischen Studios der TU Berlin sowie anderen internationalen Archiven und Dokumentationen elektroakustischer Kunst unter verschiedenen Aspekten präsentiert.