Studioforum

Woche 44 - 48 / 5.11. - 2.12.07

Re-mix re? - Vorträge vom DEGEM-Symposium & Remix-Konzertprojekt am 28.07.2007 in München

1. Frank Niehusmann: Einleitung / 10:00

2. Jürgen Nützel: Potato System / 52:47

3. Gespräch Frank Niehusmann / Ludger Brümmer: Zukunftsmusik als universaler Remix? / 27:41


Remix - Re? // Einleitung von Frank Niehusmann
Es geht heute um Zukunftsfragen der ehemaligen Zukunftsmusik - bzw. um einen Blick (zurück?) in die Zukunft der guten alten "elektronischen Musik" in Zeiten des Internet und der unendlich verfügbaren Klänge und "Samples" in jedem Heimcomputer.

Im ganz gewöhnlichen Alltag der rapiden Digitalisierung aller möglichen Lebensbereiche haben wir uns an manche Update-Orgien und Innovations-Lawinen inzwischen dermaßen gewöhnt, daß der eine oder andere historische Sprung mitten dadrin gelegentlich übersehen wird. Ein Beispiel (das zum Glück protokolliert wurde, sonst wäre es garantiert verloren): Es war am Sonntag, den 29.Juni 1975 als zum ersten Mal jemand ein Zeichen auf einer Schreibmaschinen-ähnlichen Tastatur tippte, die mit einem Computer verkabelt war, und dann sah, wie das Zeichen direkt vor ihm auf einem TV-Bildschirm erschien, der ebenfalls mit dem Computer verbunden war. Der Mann, dem das an jenem Sonntagabend zwischen 22 und 24 Uhr gelang, hieß Steve Wozniak, Jahrgang 1950: er hatte kurz zuvor zusammen mit seinem Freund Steve Jobs die Firma Apple Computer gegründet. Seitdem ist Rasantes passiert, die Computer von Apple sind als alltägliche Werkzeuge omnipräsent in allen Musik-Studios, bei jedem Projekt elektroakustischer Kunst und auf fast allen Konzert- und Theater-Bühnen. 19 Jahre später (1994) brachte die Firma Netscape den ersten Web-Browser massenhaft unter die Leute und spätestens seitdem sind wir also alle irgendwie "online", updaten unsere Website und löschen Spam und Cookies. Weitere 9 Jahre (und einen Börsencrash) brauchte es dann nochmal, bis 2003 "Skype" ins Netz gestellt wurde und wir anfangen konnten, in Echtzeit via Skype-Konferenzen international miteinander zu singen. Und von da an waren es nur noch 4 Jahre bis heute, wo wir mit der tubePlug-Software von Jörg Stelkens eine internationale elektroakustische Netzwerk-Jamsession spielen und die Stereo-Summe vom Server hier in der tube weltweit im Internet als sogenanntes WebRadio hörbar machen.

Wenn wir solche Sprünge und Zusammenhänge aus den Augen verlieren, werden uns selbst in diesem Accelerando verlieren - und es ist nicht nur ein Accelerando der Technik, dem wir ausgesetzt sind. Aber wir fragen hier beim Symposium "Remix-Re?" dennoch zuerst nach der Technik - und machen mit der tubePlug-Software jetzt und hier in München einen Schritt in die Zukunft, so daß wir ab übermorgen alle sagen können, daß Wir es waren, die dabei waren, als das damals mit den globalen Netzwerk-WebRadio-Konzerten richtig losging. Rasantes passiert gleichzeitig in dem Sektor, den wir immer noch den "Kapitalismus" nennen: Rockstar Prince hat (laut FAZ, 18.Juli 2007) seine neue CD "Planet Earth" gerade in einer 3-Mio.-Auflage als kostenlose Beilage zur britischen Zeitung "Mail on Sunday" veröffentlicht: ganz so, wie es zuvor Peter Gabriel schon mit einer "Greatest-Hits"-Kollektion gemacht hat. Wer will, kann aus solchen Wirtschaftsnachrichten herauslesen, daß der Kapitalismus, wie wir ihn bislang kannten, in Zeiten der Digitalisierung vieler Waren und Werte zu Handlungs-Optionen übergeht, die uns im Moment noch als bizarr oder karnevalesk erscheinen. Es sind aber eben keine Promotion-Scherze mehr, die wir da erleben, sondern Vorboten einer "Ökonomie 2.0", also Vorboten dessen, was da kommt, wenn immer mehr nichts mehr kostet, weil es verlustfrei, unkontrollierbar kopierbar ist. Genau das ist der Zustand der Musik schon seit Jahren, woraus man nebenbei auch ersehen kann, daß der Kultursektor nach wie vor sozio-ökonomische Prozesse vorab durchspielt, die erst später als alltägliche Normalität sich auszubreiten beginnen.

Wir wollen heute im Rahmen dieses Symposiums versuchen, genau solche Spuren zu lesen und im Bereich der elektroakustischen Künste nach Indizien suchen, die uns ahnen lassen könnten, was demnächst noch alles kommt - und wie wir uns zwischen unseren Homepages, Media-Streams, Sample-Archiven und Software-Baukästen als Künstler professionell dazu verhalten könnten. Wir fragen also auch nach ökonomischen Visionen für Musik im Zeitalter unendlich kopierbarer Sound-Dateien - und werden das Potato-System kennenlernen. Und wir fragen nach dem "Remix" als einer künstlerischen, medialen, philosophischen, vielleicht sogar ökonomischen Strategie und ihrer Ästhetik in Zeiten der unbegrenzten Verfügbarkeit von allem, was uns für unsere Arbeit wertig ist: "was tun?" in Zeiten unbegrenzter Verfügbarkeit von Daten, Samples, Materialien, Tools, Infos und Ideen? Wir werden dabei vermutlich klassischen Zombies wie der Negativen Dialektik Thodor W. Adornos ebenso begegnen wie dem visionären Hymnen-Remixer Karlheinz Stockhausen - und wir werden fragen, wie es nach zeitgenössischen Remix-Künstlern wie DJ Spooky denn weitergeht, wenn alle auf alles Zugriff haben und kein Großmeister mehr als technologischer Marktführer und exklusiver Besitzer von Distributions- und Produktionsmitteln auftreten kann. Gefragt wurde neulich der Großmeister Klaus Schulze (in der aktuellen Ausgabe der Zeitschrift Keyboards): "Ist das Auswählen von Presets denn noch Kunst?". Antwort des Meisters: "Klar! In der Elektronik bist Du ja nicht nur Sound-Designer sondern auch Sound-Sucher!". - Vermutlich eine mit Adorno inkompatible Sicht der Dinge, dagegen für Klangkünstler wie Haarmann, Kalle Laar, Claus van Bebber, Frank Schulte oder DJ Sniff (die wir heute abend hier hören werden) der ganz normale Komponisten-Alltag.

Wir sind als Künstler, Interpreten, Musik-Manager, -Verleger oder -Produzenten mehr oder weniger bewußt oder unbewußt längst dabei, uns auf eine noch lange andauernde Umbruch-Phase in ökonomischer und ästhetischer Hinsicht einzurichten. Viele kompensieren den Eindruck des ständigen Accelerando der Innovationen mit der sympathischen Fehleinschätzung, daß es jetzt ja wohl viel weiter nicht mehr gehen kann. Das Symposium "Remix-Re?" soll uns dabei eine Art kleiner futurologischer Kongreß sein: wir wollen ein paar Spuren aus der Gegenwart so zusammenlesen, damit wir ab morgen noch etwas gelassener dem entgegensehen können, was als nächstes kommt. Als Klaus Schulze wurde gefragt, ob er - der die Entwicklung der elektronischen Musik von Anfang an miterlebt hat - sich heute immer [noch] vorstellen kann, mit [echten] "Innovationen" konfrontiert zu werden, antwortete er: "Ich konnte mir ja früher schon eine Menge Sachen NICHT vorstellen. Ich habe aber das Gefühl, daß [inzwischen] schon viel MEHR da ist, als wir überhaupt benutzen können. Musiker haben heute eigentlich alles, was sie brauchen. Früher hat die Technik uns limitiert, heute sind wir es selbst." In diesem Sinne würde ich mich freuen, wenn dieses Symposium "Remix-Re?" als kleine Trainingseinheit für die Fitness bei der täglichen Grenzüberschreitung dienlich sein könnte.

Frank Niehusmann stammt aus Essen, hat an der Ruhr-Universität Bochum ein Studium in Philosophie und Geschichte absolviert (MA, 1986) und arbeitete 1983-1998 als Rundfunk- und Fernseh-Autor.
Mit elektronischer Musik beschäftigt er sich seit 1978 und komponierte Werke für Radio-, Video-, TV- und Theaterproduktionen, Klang-Installationen und zahlreiche internationale Konzerte.
Seit 2006 ist Frank Niehusmann Mitglied des Vorstandes der Deutschen Gesellschaft für Elektroakustische Musik.

www.niehusmann.org


Multi-Level-Marketing für Musik mit dem PotatoSystem
von Jürgen Nützel

Das von der 4FO AG (4FriendsOnly.com Internet Technologies AG) zusammen mit dem Fraunhofer IDMT entwickelte PotatoSystem bietet unabhängigen Labels und Bands die Möglichkeit ihre MP3-Songs und Alben überall im Internet selbst oder mit der Hilfe ihrer Fans zu vertreiben. Ab ca. Juni 2007 ist dies nicht nur auf gewöhnlichen Web-Seiten sondern auch auf den Seiten von MySpace und in der Online-Welt von Second Life möglich.

In Second Life verfolgt der Kauf und Weiterverkauf in Linden-Dollar. Für MySpace wird für jedes Album ein spezieller im Design anpassbarer Flash-Player mit integrierter Shop-Funktion angeboten. Für Second Life werden spezielle Musik-Objekte bereitgestellt. Werden sie kostenlos kopiert und weitergegeben kann der am Objekt angeheftete Song nur 45 Sekunden vorgehört werden. Wird für das Musik-Objekt bezahlt, kann der Song in voller Länge heruntergeladen werden.

Die Käufer können die erworbenen Stücke über das PotatoSystem ebenfalls wieder anbieten und erhalten beim Verkauf 20% vom Verkaufspreis als Provision gutgeschrieben. Damit die Käufer die Idee des Wiederverkaufs auch an ihre Käufer weitergeben, sind sie auch an deren Erfolg beteiligt. Dieser Multi-Level-Marketing-Ansatz sorgt für eine virale Verbreitung der Songs bzw. der Anbieter der Songs (siehe Abbildung). Maximal 35 Prozent des Kaufpreises gehen insgesamt als Provisionen an maximal drei beteiligte Wiederverkäufer. Sind keine Wiederverkäufer beteiligt gehen 78 Prozent bei jedem Verkauf an den Erstanbieter (Label bzw. Band) (ggf. abzüglich Gebühren für Verwertungsgesellschaften). Um den Weiterverkäufer mehr Möglichkeiten an die Hand zu geben, wird erwogen ihm zu ermöglichen, seine Provision (20%) mit dem Käufer individuell zu teilen.

Um Musik mit Potato zu verkaufen, müssen Labels oder Bands jeden Song und Album beim PotatoSystem registrieren. Dafür wird ein Song- bzw. Album-spezifischer Flash-Player, generiert, in dem die notwendigen Daten zum Bestellen und Vorhören der Musikdateien neben dem Cover enthalten sind. Die Flash-Player können problemlos in jede Webseite und sogar in MySpace integriert werden.

Das PotatoSystem übernimmt für registrierte Labels, Künstler oder Musikportale zahlreiche weitere Service- und Backend-Aufgaben. Neben dem Registrierungsmanagement werden die Abrechnung mit den Verwertungsgesellschaften und das komplette Transaktionsmanagement mit der Verteilung der Provisionen durch das PotatoSystem übernommen.Zusätzlich bietet Potato weitere Dienstleistungsangebote, wie z.B. den Newsletter-Versand für Labels.

Da jeder Song und jedes Album beim PotatoSytem angemeldet werden muss, wird für Labels ein vereinfachtes Anmeldungsverfahren angeboten. Mit Hilfe der Offline-Registrierung können Songs mit wenigen Schritten angelegt und durch den Upload per CSV-File registriert werden. Das PotatoSystem bietet zusätzlich eine Web-Service-Schnittstelle (SOAP/XML) zur Server-Server-Kopplung an. Damit können Server auf Labelseite und der Potato-Server gekoppelt werden. So können sehr einfach Künstler-Neuanmeldungen auf Netlabelsites zur Registrierung an Potato geschickt werden.

Privatdozent Dr.-Ing. habil. Jürgen Nützel
Gründer, Vorstand und Haupteigentümer der
4FriendsOnly.com Internet Technologies AG (4FO AG)
Homburger Platz 4, 98693 Ilmenau

1991 bis 1994 Hardware-Entwickler bei Siemens
1994 bis 1999 Promotion, Informatik, TU Ilmenau
1999 bis 2005 Habilitation über virtuelle Waren (Informatik)
Seit 2006 Privatdozent an der TU Ilmenau (Vorlesung zu DRM)
2000 Gründung und Leitung der 4FO AG
Seit 2002 enge Verbindung zu Fraunhofer IDMT/IIS
Bis September 2006 an der TU Ilmenau beschäftigt

www.potatosystem.com
www.4fo.de
www.idmt.fraunhofer.de


Podiumsgespräch: Zukunftsmusik als universaler Remix?
Ludger Brümmer und Frank Niehusmann

a) Status-Anzeige:
Nachdem in C-Dur mehr oder weniger fast alles gesagt ist, stellt sich heute vielleicht schon die Frage, ob nicht auch in C-Sound, Cubase und Max/Msp mehr oder weniger alles gesagt ist?

Alle haben Zugriff auf alle Samples; und es gibt keine Beschränkungen im Zugriff auf enorm mächtige Werkzeuge zur Klangestaltung, Musikproduktion und -Distribution; eine "Marktführerschaft" in Bezug auf die Musik-Produktionsmittel wie sie einst vielleicht Peter Gabriel oder Karlheinz Stockhausen nachgesagt wurde, ist historisch überholt; Werkzeuge und Material sind für alle im Übermaß vorhanden - was nun? Wenn alle Industrie-Geräusche und alle ethnischen Gesänge (und alles andere) in Sound-Archiven und Sample-Libraries abrufbar sind, wenn alle nötigen Software- und Hardware-Instrumente frei zugänglich sind, verliert die elektronische (elektroakustische) Musik ihre Aura von Zukunftsmusik und Avantgarde? Nicht "Gott ist ein DJ", jeder ist ein DJ!? Und jede Zukunftsmusik nur noch der Remix der längst vorhandenen Samples?

b) Fluchtversuche:
anstelle der Suche nach "neuer Musik" (im herkömmlich konzertanten oder radiophonen Sinne) findet man in der elektronischen (elektroakustischen) Musik immer öfter Informatik-Projekte, Architektur-(Raum-)-Projekte, multimediale (Bühnen-/Kino-/Installations-) Projekte: ist das die "Flucht nach vorne"? (Flucht der Avantgarde vor den enormen Möglichkeiten der "elektronischen Hausmusik", dem "Experimental-Pop aus dem Kinderzimmer", dem unendlichen Remix von allem und jedem aus dem Internet?) - Wann werden die Künstler/Komponisten auch da (Informatik, Raum, Multimedia) eingeholt: das "Jeder-kann-mitmachen-Virus" kennt keine Grenzen, weil Informationen ("Wissen") und Universalmaschinen ("Computer") allgemein zugänglich sind?

c) Beschaffungswesen:
Alle Klänge sind schon da; Archive, Sampling-DVDs, Download-Systeme bieten das vollständige Klang-Panorama für alle; ästhetische Konzepte und kompositorische Methoden gibt's (noch) nicht im Download-Abo - aber bald? Stehen wir in Sichtweite zum "Ende der Musik wie wir sie kannten"? Oder erst am Anfang einer vollends befreiten Beschäftigung mit akustischer Kunst? Ist die "Akustische Kunst" (befreit von allen Technik- und Material-Zwängen) das, was historisch "nach der Musik" kommt, so wie (hinkend!) das Kino "nach der Malerei" kam?

d) Irrtum vorbehalten:
Zehn hoch sechsunddreißig Millionen Samples auf der Festplatte und Produktions-Tools ohne Ende auf dem Rechner können einen Künstler weder beschädigen, noch kreativ blockieren, noch seine Aura entwerten? Keine Angst vor Quantiäten: früher wurde auf Papier für ein Orchester mit 120 Musikern komponiert - da können wir heute mit dem Multi-Core-Prozessor leicht Millionen Samples aus intelligenten Datenbanken in den nächsten Online-Remix mischen!?

Prof. Ludger Brümmer
Leitung Institut für Musik und Akustik
ZKM / Zentrum für Kunst und Medientechnologie
Lorenzstrasse 19 . D - 76135 Karlsruhe

www.zkm.de/musik
www.sumtone.com/lb

Frank Niehusmann
Komponist, Mitglied des Vorstands der DEGEM
www.niehusmann.org


Elektronische Studios aus ganz Deutschland und dem Ausland werden hier portraitiert und stellen ihre aktuellen Projekte, Forschungsvorhaben und Entwicklungsarbeiten vor. Das Studio-Forum dient langfristig dem Austausch zwischen den Studios als Produktionsstätten vielfältiger elektroakustischer Musik und Klangkunst.