ZKM | Musik Aktuell

Woche 49 - 02 / 3.12.07 - 13.01.08

Slot 1: Werke von Preisträgern des Giga Hertz Preises 2007

01 Jonathan Harvey: Mortuos Plango, Vivos Voco
Tonbandkomposition 9:00
02-07 Flo Menezes: Words in Transgress / 12:33
08 Vassos Nicolaou: Orbit
für Midi Piano und Elektronik / 9:38
09 Mark Andre: AB II
für Kontrabassklarinette, Violoncello, Cymbalon, Schlagzeug, Klavier und Live-Elektronik / 24:55
10 Daniel Mayer: Rondo for buffer granulator / 8:00


Giga-Hertz-Preis für elektronische Musik
Das ZKM | Institut für Musik und Akustik verleiht seit dem Jahr 2007 alljährlich zusammen mit dem Freiburger EXPERIMENTALSTUDIO für akustische Kunst e.V. und der Stadt Karlsruhe den Giga-Hertz-Preis für elektronische Musik. Dieser neue und in seiner Konzeption äußerst zukunftsweisende internationale Musikpreis ist der Initiative und dem Engagement von ZKM-Vorstand Peter Weibel zu verdanken.
Der Giga-Hertz-Preis richtet sich an Komponisten mit Arbeiten im Bereich der elektronischen und akusmatischen Musik. Eine international besetzte Fachjury vergibt dazu jährlich einen Hauptpreis sowie vier Produktionspreise.
Der Hauptpreis zeichnet das künstlerische Schaffen renommierter Komponisten aus. Er wird nicht öffentlich ausgeschrieben, sondern durch Vorschläge der Jurymitglieder ermittelt. Die vier Produktionspreise dienen der Initiierung und Förderung neuer Projekte und richten sich daher besonders an Nachwuchskomponisten im Bereich der elektronischen und akusmatischen Musik. Die aktuelle Ausschreibung und weitere Informationen zum Bewerbungsablauf finden Sie hier.
Der Giga-Hertz-Preis ist dem weltberühmten Physiker Heinrich Hertz (1857-1894) gewidmet, der Ende des 19. Jahrhunderts an der Karlsruher Technischen Universität lehrte und dort die elektromagnetischen Wellen entdeckte. Dieser Preis für elektronische und akusmatische Komposition ist einzigartig in Deutschland und verdeutlicht die Wichtigkeit der elektronischen Musik insbesondere in Baden-Württemberg - wird er doch getragen von den wichtigsten deutschen Studios für elektronische Musik: dem Freiburger EXPERIMENTALSTUDIO für akustische Kunst e.V. und dem ZKM | Institut für Musik und Akustik (IMA) in Karlsruhe.

Jury 2007: Pierre Boulez, Ludger Brümmer, Detlev Heusinger, Armin Köhler, Wolfgang Rihm, Horacio Vaggione

Giga-Hertz-Preisträger 2007:
Hauptpreis: Jonathan Harvey
Produktionspreise: Flo Menezes, Vassos Nicolaou, Daniel Mayer, Mark Andre


Zu den Werken:

Jonathan Harvey: Mortuos Plango, Vivos Voco
"Mortuos Plango, Vivos Voco, um den vollen Titel zu nennen, ist ein Werk nur für Tonband, das 1980 am IRCAM entstand. Es ist das Resultat einer Art des Zusammen-Hörens. Es besteht aus der Stimme meines Sohnes, der zu dieser Zeit Sänger im Chor an der Winchester Kathedrale war und der dortigen Glocke, der größten Glocke in dieser Kathedrale. Auf dieser Glocke steht ein lateinischer Text geschrieben, von dem ein Teil den Titel des Stücks bildet. †bersetzt bedeutet der Text soviel wie: Ich beklage den Tod, ich rufe das Leben an und ich zähle die flüchtigen Stunden. Das ist auch die Funktion der Winchester-Uhr, für die die Glocke schlägt. Es ist gleichzeitig eine Referenz an den Tod, dass diese Glocke dem Sein die Stunde schlägt und das Leben zum Leben aufruft. Es gibt also drei verschiedene Aspekte, die im Stück reflektiert werden:
Die Glocke ist ein statisches Instrument mit nur einem Klang im Verhältnis zur Stille und Andacht. Der Junge ist ein Beispiel menschlichen Lebens. Er fliegt gewissermaßen durch seine Stimme in dieser Produktion durch den Raum. Und in einem gewissen Sinn ist die Glocke als Klang komplett im Raum verteilt, ganz oben, von der Seite oder von Hinten. Der Junge ist dabei ein Vogel der ganz frei durch den Raum fliegen kann. Die Grundstruktur des Stücks ist aus dem Glockenschlag gewonnen worden. Neuen Minuten lang, während des ganzen Stücks, wird dieser Glockenschlag elektronisch verarbeitet. Bit für Bit dringt die Elektronik in den Glockenschlag ein. Jeder der acht Abschnitte in dem Stück handelt von einem Teilbereich des Glockenklangs. Aus diesen Teilen wird der Glockenklang zusammengesetzt. Die Stimme des Jungen und der Glockenklang sind beide ähnlich wie Live-Aufnahmen im realen Leben. In digitaler Form können sie ineinander verschachtelt werden. Das ist eine Art "morphing" was wir da getan haben. Heute ist das Alltag, aber 1980 war das komplett neu. Ich mochte die Idee, die Stimme des Jungen und den Glockenklang zusammen zu bringen. Man weiß an einigen Stellen nicht, was der Junge ist und was die Glocke. Diese Ambiguität mag ich. Dieses Poem basiert auf diesen Parametern. Das Stück ist eine Hommage an eine der größten Kathedralen in Europa, mit dieser wunderbaren Akustik, dem herrlichen Chor und dieser großartigen Glocke."
Jonathan Harvey

Jonathan Harvey (*1939 in Sutton Coldfield, Warwickshire) gilt als einer der handwerklich fundiertesten, produktivsten und einfallsreichsten Komponisten unserer Zeit. Seine Werke orientieren sich an der Entwicklung der Neuen Musik und reflektieren Aspekte christlichen, theosophischen und buddhistischen Gedankenguts. Die frühen Stücke setzen sich mit der Zwölftontechnik Schönbergs, Weberns und Milton Babbits ebenso auseinander wie mit der Ausarbeitung ihrer Verbindung zu mittelalterlichen Gesangsformen bei Peter Maxwell Davies. Kern seines Musikkonzepts ist die Vorstellung des einzelnen Klanges als resonierendem Klangkomplex, der sowohl eine spektrale Analyse ermöglicht als auch als geistiger Ausdruck verstanden werden kann. Eine Besonderheit von Harveys Werken, insbesondere den späten, ist die Interaktion und Austauschbarkeit von elektronischen und traditionellen Live-Klängen. Seine musikalische Ausbildung begann er als Chorknabe am St. MichaelZs College in Tenbury. Später studierte Harvey Musik am St. JohnZs College in Cambridge, promovierte an den Universitäten Glasgow und Cambridge und studierte privat bei Erwin Stein und Hans Keller, wo er schon früh mit der Schule Arnold Schönbergs Bekanntschaft machte. Harvey war von 1959 bis 1970 Harkness-Stipendiat in Princeton. Auf Einladung von Pierre Boulez arbeitete er zu Beginn der 1980er Jahre am IRCAM in Paris. Dort entstanden bislang sieben seiner Werke, darunter zwei für das Ensemble Intercontemporain (wie das gefeierte Tonbandstück Mortuos Plango), Vivos Voco, Bhakti für Ensemble und Elektronik sowie Advaya für Cello, Live-Elektronik und aufgezeichnete Klänge. Harvey komponierte zahlreiche Tonband- und Instrumentalwerke für unterschiedliche Genres und Besetzungen. So schrieb er unter anderem Werke für Orchester (Tranquil Abiding, White as Jasmine und Madonna of Winter and Spring), Kammermusik (vier Streichquartette, Soleil Noir/Chitra und Death of Light, Light of Death), Werke für Soloinstrumente, zahlreiche Chorwerke, die großangelegte Kantate Mothers shall not Cry (2000) für das BBC Proms Milleniumkonzert sowie die Opern Passion and Resurrection (1981), Inquest of Love (1993) und Wagner Dream (2007). Professuren führten ihn an die Sussex University von 1977 bis 1993, wo er derzeit eine Honorarprofessur innehat, und an die Stanford University (USA) von 1995 bis 2000; er war Gastprofessor am Imperial College in London, ist Honory Fellow am St. JohnÕs College in Cambridge und Composer-in-Association des BBC Scottish Symphony Orchestra. Die Universitäten von Southampton, Sussex und Bristol verliehen Harvey die Ehrendoktorwürde. Er ist Mitglied der Academia Europaea und erhielt 1993 den angesehenen Britten Award für Komposition. Seine Werke kommen regelmäßig bei den großen internationalen Festivals für zeitgenössische Musik zur Aufführung und werden von den maßgeblichen Ensembles für zeitgenössische Musik interpretiert, darunter das Ensemble Modern, Ensemble Intercontemporain, ASKO Ensemble, Nieuw Ensemble of Amsterdam, Nouvelle Ensemble Moderne Montréal, das Ictus Ensemble Brüssel und die Sinfonia 21.

Flo Menezes: Words in Transgress
Flo Menezes (*1962 in São Paulo) studierte Komposition an der Universität São Paulo bei Willy Corra de Oliveira (1980-1985), elektroakustische Musik bei Hans Humpert am Studio für elektronische Musik in Köln (1986-1990) und Computermusik am Centro di Sonologia Computazionale in Padua (1991); er besuchte Kurse bei Pierre Boulez (1988), Brian Ferneyhough (1995), Luciano Berio (1989) und Karlheinz Stockhausen (1998). Auf Einladung von Stockhausen lehrte Menezes bei dessen Internationalen Stockhausen-Kursen 1999 und 2001. 1992 erhielt Menezes den Doktortitel für seine Arbeit über Luciano Berio (Betreuer: Henri Pousseur). Für seine Kompositionen erhielt Menezes wichtige internationale Auszeichnungen: UNESCO in Paris (1991), TRIMALCA-Preis (1993), Prix Ars Electronica (1995), Luigi Russolo Wettbewerb (1996), Prmio Sergio Motta in São Paulo (2002) und Bolsa Vitae de Artes in São Paulo (2003). Er wurde von vielen Institutionen eingeladen - wie von der Fondation Royaumont (1995), dem IRCAM und GRM (1997) - und seine Werke wurden auf Festivals und in Theatern auf der ganzen Welt gespielt (Carnegie Hall in New York, Salle Olivier Messiaen in Paris, Walt Disney Hall/Redcat in Los Angeles, Sala São Paulo, Maison de la Suisse Romande etc.). Menezes ist Autor verschiedener Veröffentlichungen, Gründer und Direktor des Studio PANaroma in São Paulo und von PUTS: PANaroma/Unesp - Teatro Sonoro, dem ersten Lautsprecherorchester in Brasilien. Derzeit lehrt er als Professor für Elektroakustische Musik an der State University of São Paulo (UNESP).

Vassos Nicolaou: Orbit für Midi Piano und Elektronik
Vassos Nicolaou (*1971 auf Zypern) studierte Klavier, Musiktheorie, Komposition, elektronische Musik und Orchestration an der Universität Thessaloniki, an den Musikhochschulen in Köln und Frankfurt, am Conservatoire National Supérieur de Paris und am IRCAM. Seine Lehrer waren York Höller, Theodore Antoniou, Marco Stroppa, Hans Ulrich Humpert, Marc-André Dalbavie, Philippe Leroux und Beat Furrer. Nicolaou war Stipendiat der Zyprischen Regierung, von Megaro Moussikis Athen, der Internationalen Ensemble Modern Akademie und der Musikhochschule Weimar (Franz Lizst Stipendium). Von 2004 bis 2005 war er Artist in Residence der Cité des Arts in Paris. 2005 zeichnete ihn die Stadt Köln mit dem Bernd Alois Zimmermann Preis aus. Nicolaous Werke werden in ganz Europa und den USA aufgeführt, unter anderem von den folgenden Ensembles, Musikern und Dirigenten: London Sinfonietta, Ensemble Intercontemporain, Internationale Ensemble Modern Akademie, Piandemonium, Ensemble Aleph, Ensemble Aventure, e-mex, Griechisches Ensemble für Zeitgenössische Musik, International Contemporary Ensemble, Philharmonisches Orchester Altenburg-Gera, Peter Eötvös, Theodore Antoniou, Diego Masson, Dimitri Vassilakis, Pierre-Laurent Aimard, Tamara Stefanovich, Nacho de Paz, Nicolás Pasquet und Jonathan Stockhammer.

Mark Andre: AB II für Kontrabassklarinette, Violoncello, Cymbalon, Schlagzeug, Klavier und Live-Elektronik
Mark Andre (*1964 in Paris) studierte Komposition am Conservatoire National Supérieure de Musique de Paris (CNSMP) bei Claude Ballif und Gérard Grisey mit Auszeichnung und von 1993 bis 1996 an der Hochschule für Musik Stuttgart bei Helmut Lachenmann. Daneben studierte er Musikwissenschaft an der ƒcole Normale Supérieure in Paris und 1997/98 im Rahmen eines Stipendiums der Experimentalstiftung der Heinrich-Strobel-Stiftung des SWR Freiburg Musikelektronik bei André Richard. 2005 war er Stipendiat des DAAD Künstlerprogrammes in Berlin. Mark Andre erhielt zahlreiche Stipendien und Preise. Er war Stipendiat der Akademie Schloss Solitude in Stuttgart (1996), des SWR und der Stadt Baden-Baden (1997-1998), der Villa Médicis in Rom (1998 und 2001) und der Oper Frankfurt (2001), deren Kompositionspreis er für ....das O... (erster Teil von ...22,13...) erhielt. Zu seinen Auszeichnungen zählen außerdem der Kranichsteiner Musikpreis der Internationalen Ferienkurse für Neue Musik in Darmstadt (1996), der 1. Preis des Internationalen Kompositionswettbewerbs Stuttgart für Le Trou noir univers (1992-1993), der Kompositionsförderpreis der Ernst-von-Siemens-Stiftung (2002) und der Christoph und Stefan Kaske Kompositionspreis (2006).
Mark Andre schreibt Werke im Auftrag wichtiger europäischer Festivals wie der Donaueschinger Musiktage, der Internationalen Ferienkurse Darmstadt oder der Wittener Tage für Neue Kammermusik sowie für Rundfunkanstalten wie dem SWR, BR und WDR. Zu den Auftraggebern zählen u.a. das Ensemble Modern, ensemble recherche, Trio Accanto, Klangforum Wien und das Kammerensemble Neue Musik Berlin. Mark Andre lehrt derzeit am Conservatoire National de Région de Strasbourg und an der Musikhochschule Frankfurt.

Daniel Mayer: Rondo for buffer granulator
Daniel Mayer (*1967) absolvierte in Graz Studien der Mathematik und Philosophie an der Karl-Franzens-Universität und der Komposition an der Universität für Musik und darstellende Kunst (Klasse Prof. Gerd Kühr). 2001 erhielt er das Ö;sterreichische Staatsstipendium für Komposition. Postgradual studierte Mayer 2001/2002 am elektronischen Studio der Musik-Akademie Basel bei Hanspeter Kyburz algorithmische Komposition. 2003/2004 war er Gastkomponist am ZKM Karlsruhe und 2005 war er am Institut für Elektronische Musik und Akustik Graz (IEM) als Gastkomponist tätig. In seiner kompositorischen Arbeit beschäftigt sich Mayer mit der Entwicklung strukturerzeugender Computeralgorithmen und deren Anwendung. Aufführungen von instrumentalen, elektronischen und gemischten Werken; er trat in Vorträgen, Publikationen und Gesprächskonzerten in Erscheinung. Daniel Mayer lebt als freischaffender Komponist in Graz.



Slot 2: Wolfgang Rihm: Étude d'après Séraphin für instrumentale und elektronische Klänge / 57:08

Mitschnitt der Aufführung vom 18.10.2007 aus Anlaß des Jubiläums 10Jahre ZKM im Hallenbau A mit dem Ensemble für Neue Musik der Musikhochschule Karlsruhe, Leitung: Gérard Buquet, Klangregie: Wolfgang Rihm
Étude d'après Séraphin ist ein Auftragswerk des ZKM | Karlsruhe aus dem Jahre 1997.

Harfe: Prof. Maria Stange, Birke Falkenroth
Kontrabass: Matteo Gaspari, Hatsumi Suzuki
Posaune: Andreas Rauber, Hannah Rau, Bo Wang, Joachim Osswald
Schlagzeug: Sakiko Idei, Ferdinand Martin, Rie Watanabe
Vorbereitung: Prof. Werner Schrietter (Posaunen),
Prof. Isao Nakamura (Percussions),
Prof. Maria Stange (Harfen),
Prof. Wolfgang Güttler (Kontrabässe)

ZKM | Zentrum für Kunst und Medientechnologie Karlsruhe
Leiter des ZKM | Institut für Musik und Akustik: Prof. Ludger Brümmer
Projektleitung: Dr. Achim Heidenreich
Veranstaltungsleitung: Viola Gaiser
Technische Leitung: Manuel Weber, Hartmut Bruckner, Thomas Saur.
Licht: Manuel Weber


"Die Séraphin-Kompositionen entstehen wie Zeit-Gesteinsschichten. Klang-Partikel früherer Zustände werden in neue Zusammenhänge eingesprengt, jüngere Struktur-Schichten lagern auf älteren. Bereits in dem Musiktheaterstück Séraphin erscheinen Einsprengungen aus der Etude pour Séraphin, vom Tonband eingespielt. Der gesamte erste Zustand von Séraphin wurde seinerseits zur Schicht: Aus dem Material des Uraufführungsmitschnitts formte ich im ZKM-Studio Elektronische Klänge (Tonband), eineTonbandkomposition, die für die Séraphin-Spuren die Grundschicht darstellt. Dazu komponierte ich eine Live-Musik für sieben Solisten. Dieses Stück, in dem 'Séraphin' seine 'Spuren' hinterlassen hat, die verwischt, übermalt oder verbreitert wurden, geriet seinerseits auf denWeg in einen neuen Zustand: Es ist Bestandteil des MaterialsTonbandschicht geworden, zu der ein Ensemble von vier Posaunen, zwei Harfen, zwei Kontrabässen und drei Schlagzeugern live hinzutritt: Etude d'après Séraphin.

In diesem Stück, das zuerst denTitel 'Stufen des Erinnerns' tragen sollte, arbeitete ich erstmals mit elekrtronisch transformiertem Material. Dieses Material (vor allem sehr tiefe Blechbläser-Klänge, die in Abgrund-tiefen transponiert wurden) entstammt auch der Etude pour Séraphin, die ich in den Kreis meiner 'anamnetischen' Kompositionen einbeziehe. Das sind Kompositionen (wie auch die Orchesterstücke Sub-Kontur, INSCHRIFT oder La Lugubre Gondola/Das Eismeer ), in denen ich versuche, Stufe um Stufe hinabzugelangen in unwillkürliche, atavistische Bezirke. Es sind dies vielleicht auch Versuche, durch Kunst der Kunst zu entkommen. Mit besonderer Erregung konnte ich verfolgen, daß es mit den hochentwickelten technischen Gegebenheiten des ZKM-Studios möglich wurde, in quasi vor-zivilisatorische Ausdrucksbereiche vorzudringen. Der Leviathan? Titanisches? Wir entkommen nicht. Das Séraphin-Schattentheater, im Sinne Baudelaires und Artauds, hat bei mir eine Werkreihe in Bewegung gesetzt (Eigenzeugung, plasmatische Generation...), die das jeweils Vorige als Abschein bewahrt, das Gegenwärtige als Eindruck und Spur setzt, sowie das Kommende als Projektion durchscheinen läßt. Ich spreche hier nur über die musikalische Erscheinungsform dieser sich fortzeugenden Musiken. Sie ermöglichen unterschiedliche Formen des szenischen Nähertretens und Entfernens; Anwesenheit/Abwesenheit des Bildes, der Bewegung, des gestalteten sichtbaren Raumes. Diese Bereiche sind aufgerufen (Musik ist auch darin Beschwörung), sich auszuprägen. Immer neu und anders. Oder gleich. Oder nicht. Der Klang ist auf der Flucht. Dabei konkretisiert sich vielleicht Artauds Text. Oder im Schweigen: indem dieses LAUT wird. Ohne das Wissen und die künstlerische Sensibilität von Torsten Belschner und Christian Venghaus hätte ich die elektronischen Klänge niemals derart aus der Luft greifen oder als Lehm (Ton!) in die Formung nehmen können, wie es mir im ZKM-Studio ermöglicht wurde. Danke!"
Wolfgang Rihm

Wolfgang Rihm: 1952 in Karlsruhe geboren. Kompositionsstudium in Karlsruhe bei Eugen Werner Velte, ferner in Köln bei Karlheinz Stockhausen und in Freiburg bei Klaus Huber; musikwissenschaftliche Studien bei Hans-Heinrich Eggebrecht in Freiburg. Rihm erhielt zahlreiche Auszeichnungen und ist Mitglied u. a. der Berliner Akademie der Künste, der Bayerischen Akademie der schönen Künste und der Freien Akademie Mannheim; 1984-85 war er Fellow des Wissenschaftskollegs zu Berlin. Er schrieb bisher über zweihundert Werke, darunter zahlreiche Orchesterkompositionen (auch mit Gesang und Soloinstrumenten), Opern (Faust und Yorick, Jakob Lenz, Die Hamletmaschine, Oedipus, Die Eroberung von Mexiko), das Tanztheater Tutuguri nach Artaud, Ensemblewerke, Streichquartette, Klavierstücke, Lieder. Er lebt in Karlsruhe, wo er seit 1985 Komposition lehrt. 1997-98 war Wolfgang Rihm 'composer in residence' des Berliner Philharmonischen Orchesters und erneut Fellow des Wissenschaftskollegs zu Berlin.

Ensemble für Neue Musik der Hochschule für Musik Karlsruhe
Leitung: Gérard Buquet
Harfe: Prof. Maria Stange, Birke Falkenroth
Kontrabass: Matteo Gasparini, Hasumi Suzuki
Posaune: Andreas Rauber, Hannah Rau, Bo Wang, Joachim Osswald
Schlagzeug: Sakiko Idei, Ferdinand Martin, Rie Wartanabe
Vorbereitung: Prof. Werner Schrietter (Posaunen), Prof. Isao Nakamura (Percussions), Prof. Maria Stange (Harfen), Prof. Wolfgang Gütler (Kontrabässe)

Antonin Artaud:
Le Théâtre de Séraphin für Jean Paulhan

Es gibt genug Details, um zu begreifen.
Präzisieren hieße die Poesie der Sache schädigen.

NEUTRAL
WEIBLICH
MÄNNLICH

Ich möchte ein schrecklich Weibliches versuchen. Den Schrei der Revolte, die man mit Füßen tritt, der im Kriege bewaffneten Angst und des Anspruchs.

Es ist wie die Klage eines geöffneten Abgrunds: die verwundete Erde schreit, doch Stimmen erheben sich, unergründlich wie das Loch des Abgrunds, und sind das Loch des Abgrunds, der schreit.

Neutral. Weiblich. Männlich.

Um diesen Schrei auszustoßen, leere ich mich.

Nicht von Luft, sondern von der Gewalt des Lautes. Ich stelle meinen Menschenkörper vor mich hin. Und nachdem ich, in einem gräßlichen Messen, 'DAS AUGE' auf ihn geworfen habe, zwinge ich ihn Stelle für Stelle in mich zurück.

Zuerst den Bauch. Mit dem Bauch muß das Schweigen beginnen, rechts, links, am Punkt der Kotstauungen, dort wo die Chirurgen operieren.

Um den Schrei kraftvoll auszustoßen, sollte sich das Männliche zuerst auf die Stelle der Stauungen stützen, die †berflutungen der Lungen mit Atem und des Atems in den Lungen befehligen.

Hier verhält es sich leider umgekehrt, und der Krieg, den ich führen will, rührt vom Krieg her, der mit mir geführt wird. Und in meinem Neutralen gibt's ein Massaker! Ihr versteht, es gibt da das feurige Bild eines Massakers, das den Krieg nährt, den ich mit mir selber führe. Mein Krieg wird von einem Krieg genährt, und er speit seinen Krieg mit sich selber aus.

NEUTRAL. Weiblich. Männlich. In diesem Neutralen herrscht eine Konzentration, der Wille auf der Lauer nach Krieg wird den Krieg mit der Kraft seines Erschütterungsvermögens zum Ausbruch bewegen.

Manchmal ist das Neutrale nicht existent. Es ist ein Neutrales in Ruhe, in Licht, im Raum kurzum.

Zwischen zwei Atemzügen dehnt das Leere sich aus, und dann ist es wie ein Raum, der sich ausdehnt.

Hier ist erstickte Leere. Die zusammengeschnürte Leere einer Kehle, drin die Heftigkeit des Röchelns die Atmung verstopft hat.

Der Atem steigt in den Bauch hinab und schafft seine Leere, von dort stößt er sie wieder hinauf IN DIE LUNGEN SPITZEN.

Was heißen soll: um zu schreien, brauche ich keine Kraft, brauche ich nur Schwäche, und der Wille wird von der Schwäche ausgehen, doch leben, um die Schwäche wieder mit der ganzen Kraft des Anspruchs aufzuladen.

Und trotzdem, und darin besteht das Geheimnis, wird die Kraft wie BEIM THEATER nicht nach außen treten. Das aktive Männliche wird komprimiert werden. Es wird den energischen Willen des Atems wahren. Es wird ihn für den ganzen Körper bewahren, und was das €ußere angeht, wird es das Schauspiel eines Verschwindens der Kraft geben, das die SINNE MITZUERLEBEN GLAUBEN WERDEN.

Von der Leere meines Bauches aus habe ich nun die Leere erreicht, die die Lungenspitzen bedroht.

Von da gerät der Atem ohne merkliche †bergangslösung in die Hüftgegend, zunächst gibt es links einen weiblichen Schrei, dann rechts, wo die chinesische Akupunktur die nervöse Ermüdung pikiert, wenn diese eine mangelnde Funktion der Milz, der inneren Organe verrät, wenn sie auf eine Vergiftung schließen läßt.

Jetzt kann ich meine Lungen mit einem kataraktartigen Geräusch wiederauffüllen, dessen Flutung mir die Lungen sprengen würde, wäre der Schrei, den ich ausstoßen wollte, nicht ein Traum.

Indem ich die beiden Punkte der Leere über dem Bauch massiere und von da aus, ohne zu den Lungen überzugehen, die beiden etwas über den Hüften liegenden Punkte, lassen diese in mir das Bild dieses bewaffneten Schreis im Kriege, dieses schrecklichen unterirdischen Schreis entstehen.

Um dieses Schreies willen muß ich stürzen.

Es ist der Schrei des vom Blitzschlag getroffenen Kriegers, der mit einem trunkenen Eisgeräusch im Vorbeigehen die geborstenen Mauern streift.

Ich stürze.
Ich stürze und habe doch keine Angst.
Ich gebe meine Angst in einem Zorneslaut, in einem feierlichen Trompeten von mir.

NEUTRAL. Weiblich. Männlich.

Das Neutrale lastete schwer und fest. Das Weibliche ist donnernd und schrecklich wie das Gebell eines sagenhaften Fleischerhundes, gedrungen wie ausgehöhlte Säulen, kompakt wie die Luft, die die gewaltigen Wölbungen des Unterirdischen zumauert.

Ich schreie im Traum, doch ich weiß, daß ich träume, und auf BEIDEN SEITEN DES TRAUMS lasse ich meinen Willen herrschen.

Ich schreie in einer Knochenrüstung, in den Höhlen meines Brustkorbkäfigs, der in den schreckenerregenden Augen meines Kopfes maßlose Bedeutung annimmt. Doch um mit diesem vom Blitzschlag getroffenen Schrei zu schreien, muß ich stürzen.

Ich stürze in ein Unterirdisches, und ich komme nicht mehr heraus, ich komme nicht mehr heraus.

Nie mehr im Männlichen.

Ich habe es gesagt: das Männliche ist nichts. Es wahrt Kraft, doch es begräbt mich in der Kraft.

Und für das Draußen ist es ein Klaps, eine Larve aus Luft, ein schwefliges Kügelchen, das im Wasser explodiert, dieses Männliche, der Seufzer eines geschlossenen Mundes im Augenblick, wo er sich schließt.

Wenn die ganze Luft in den Schrei übergegangen ist und nichts mehr für das Antlitz übrigbleibt. An diesem ungeheuren Fleischerhundtrompeten hat sich das geschlossene weibliche Antlitz zu Recht uninteressiert gezeigt.

Und hier beginnen die Katarakte.

Dieser Schrei, den ich soeben ausgestoßen habe, ist ein Traum.

Aber ein Traum, der den Traum auffrißt.

Ich bin eben in einem Unterirdischen, ich atme mit entsprechenden Atemzügen, und, o Wunder, ich bin's, der Schauspieler.

Die Luft rings um mich her ist unermeßlich, doch verstopft, denn von allen Seiten ist die Höhle zugemauert. Ich ahme einen schreckenerregenden Krieger nach, der ganz allein in die Höhlen der Erde gestürzt ist und der von Angst ergriffen schreit.

Nun benennt der Schrei, den ich soeben ausgestoßen habe, zunächst ein Loch aus Schweigen, aus Schweigen, das sich selbst widerruft, dann das Geräusch eines Kataraktes, ein Wassergeräusch, was in Ordnung ist, weil das Geräusch mit dem Theater verbunden ist. Auf diese Weise spielt sich bei allem echten Theater der recht verstandene Rhythmus ab.

Das Théâtre de Séraphin:

Was heißen soll, daß es von neuem Magie zu leben gibt; daß die Luft des Unterirdischen, die trunken ist, mit einem schrecklichen Kriegsgeräusch wie ein Heer aus meinem geschlossenen Mund in meine weit geöffneten Nüstern zurückfließt.

Was heißen soll, daß mein Schrei, wenn ich spiele, aufgehört hat, sich um sich selbst zu drehen, daß er aber sein Double an Quellen in den Mauern des Unterirdischen aufgeweckt hat.

Und dieses Double ist mehr als ein Widerhall, es ist die Erinnerung an eine Sprache, deren Geheimnis das Theater verloren hat.

Groß wie eine Muschel und gut in der hohlen Hand zu halten, dieses Geheimnis; so spricht die Tradition.

Alle Magie der Existenz wird in eine einzige Brust gelangt sein, wenn sich die Zeiten wieder geschlossen haben werden. Und dies wird dicht an einem großen Schrei sein, an einer Quelle menschlicher Stimme, eine einzige, vereinzelte Menschenstimme wie ein Krieger ohne Heer.

Um den Schrei zu schildern, den ich geträumt habe, um ihn mit lebendigen Worten zu schildern, mit entsprechenden Worten, sowohl von Mund zu Mund als von Atem zu Atem, ihn nicht ins Ohr, sondern in die Brust des Zuschauers gelangen lassen.

Zwischen der Figur, die in mir in Erregung gerät, wenn ich, als Schauspieler, die Bühne betrete, und derjenigen, die ich bin, wenn ich die Realität betrete, gibt es einen graduellen Unterschied, gewiß, doch zugunsten der Theaterrealität.

Wenn ich lebe, merke ich nicht, daß ich lebe. Aber wenn ich spiele, merke ich, daß ich existiere.

Was könnte mich hindern, an den Traum des Theaters zu glauben, wo ich doch an den Traum der Realität glaube?

Wenn ich träume, tue ich etwas, und auf dem Theater tue ich auch etwas.

Die von meinem unergründlichen Bewußtsein gelenkten Ereignisse des Traums lehren mich den Sinn der Ereignisse des Wachzustandes, wo blankes Verhängnis mich lenkt.

Nun ist das Theater gleichsam ein großes Erwachen, wo ich selbst das Verhängnis lenke.

Damit die Kette wiederhergestellt werden kann, die Kette einer Zeit, da der Zuschauer im Schauspiel seine eigne Realität suchte, muß das Theater, auf dem ich mein persönliches Verhängnis lenke, das den Atem zum Ausgangspunkt hat und das sich, nach dem Atem, auf den Laut oder den Schrei stützt, diesem Zuschauer Atemzug für Atemzug und Takt für Takt die Identifikation mit dem Schauspiel ermöglichen.

Es genügt nicht, wenn die Magie des Schauspiels diesen Zuschauer fesselt; sie wird ihn erst dann fesseln, wenn man weiß, wo er zu packen ist. Schluß mit der zufälligen Magie, mit der Poesie, der das Wissen um die Untermauerung dieser Magie fehlt.

Auf dem Theater müssen Poesie und Wissen nunmehr eins werden.

Jede Emotion hat organische Grundlagen. Indem der Schauspieler seine Emotion in seinem Körper kultiviert, lädt er dessen galvanische Dichte wieder auf.

Von vornherein die Punkte des Körpers kennen, die es anzurühren gilt, heißt den Zuschauer in magische Trance versetzen.

Und dieser kostbaren Art von Wissen hat sich die Poesie auf dem Theater schon seit langem entwöhnt. Die Lokalisationen des Körpers kennen, heißt also, die magische Kette wiederherstellen. Mit der Hieroglyphe eines Atem will ich eine Idee vom heiligen Theater wiederfinden. Mexiko, 5. April 1936

Aus: Antonin Artaud: Das Theater und sein Double. Matthes & Seitz Verlag, München 1996.
Mit freundlicher Genehmigung des Verlages


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