ZKM | Musik Aktuell

Woche 19-24 / 05.05. - 15.06.08

Slot 1: Yannis Kyriakides

The Queen is the Supreme Power in the Realm
für Ensemble und Live-Elektronik / 41:44

Kompositionsauftrag der MusikTriennale Köln, der musikFabrik und des ZKM | Zentrum für Kunst und Medientechnologie
Konzertmitschnitt der zweiten Aufführung im ZKM-Kubus am 17.05.2007

ZKM | Live-Elektronik
Klangregie: Yannis Kyriakides, Thomas Saur

Der Werktitel bezieht sich auf den telegraphischen Code von Slater aus dem Jahre 1870. Wörter waren darin bestimmten Zahlenkombinationen zugeordnet; diese einfache Verschlüsselung diente vornehmlich dem Versenden geheimer Nachrichten via Telegramm.
Telegraphische Codierungen bilden also den Hauptbezugspunkt dieses Werkes. Ihre Blütezeit fiel zusammen mit dem Höhepunkt der industriellen Revolution und des britischen Empire, als die "alte Weltordnung" einer Wende entgegensah. Allgemein gebräuchliche Sätze wurden durch einzelne Wörter oder Zahlen ersetzt. Meist nutzte die Industrie diese Verschlüsselung, um Nachrichten als kurze und preiswerte Telegramme zu versenden.
Ein ökonomischer Sprachgebrauch eröffnete also Möglichkeiten für eine schnellere Kommunikation.

Das musikalische Material von "The Queen is the Supreme Power in the Realm" speist sich aus verschiedenen Formen der Codierung von Sprache in Klang. Diese werden genutzt, um flexible Strukturen für eine offene Vertonung zu schaffen. Obwohl das Werk also eine eindeutige Grundlage und Haptik hat, ist seine Struktur offen. Es ist bedingt durch die Entscheidungen der Musiker während der Aufführung, welche die Verarbeitung der Computeralgorithmen innerhalb der Metastruktur des Klanges bewirken. Sprache wird übersetzt in Musik und ist Quelle für eine Partitur möglicher Musiken.

Die Komposition besteht aus sechs definierten Zonen, die bestimmt sind sowohl durch die Platzierung auf der Bühne als auch durch ihre Funktion innerhalb der musikalischen Anlage.

Es ist ein quasi-hierarchisches System, was sich auch im Titel niederschlägt. "The Queen is the Supreme Power in the Realm" spielt sowohl an auf das viktorianische Zeitalter als auch an Bienenkulturen und ihre komplexen Kolonien. Die Musiker können selbst entscheiden, wann sie eine Zone verlassen möchten und in eine neue eintreten; die Regeln sind jedoch in jeder Zone festgelegt.
Diese Regeln bestimmen die Art des Materials, das gespielt wird, das gehört wird und wie man auf die Vorgänge in den anderen Zonen reagieren soll. Der improvisatorische Aspekt des Stückes wird durch diese Anweisungen eingegrenzt; der größte Wert wird jedoch den Antworten der Musiker auf ihre Umgebung beigemessen. In diesem Sinne rückt das Bild von Kommunikation, also das Senden und Empfangen von Nachrichten, in den Vordergrund, aber auch die Fragilität dieser Ordnung, die sich zu jedem Zeitpunkt auflösen kann.
Yannis Kyriakides (Übersetzung: Diana Keppler)


Yannis Kyriakides wurde 1969 in Limassol auf Zypern geboren und emigrierte mit seiner Familie 1975 nach Großbritannien. Ein Jahr bereiste Kyriakides mit seiner Violine den Nahen Osten um traditionelle Musik zu lernen, bevor er sich entschloss, Musikwissenschaft an der Universität in York zu studieren. Fasziniert von der Musik Louis Andriessens zog er später in die Niederlande, um bei ihm am Konservatorium in Den Haag zu studieren. Zu dieser Zeit hatte er auch die inspirierende Gelegenheit, als Komponist bei drei Projekten mit dem konzeptuellen Klangkünstler Dick Raaijmaakers und dem Leiter Paul Koek zusammenzuarbeiten. Er lebt in Amsterdam.

In seinen Kompositionen erprobt Kyriakides neue Formen und mediale Kombinationen; er vermischt unterschiedliche Klangquellen und erforscht die Dimensionen der Raum- und Zeitwahrnehmung. Im Großteil seiner Werke ist die Kombination von traditioneller Performancepraxis und digitalen Medien wesentlich. Die sinnliche Wahrnehmung von Musik beschäftigt Kyriakides besonders, daher sucht er nach neuen Wegen der Musikaufführung jenseits konventioneller Strukturen.

Er komponiert regelmäßig für die Ensembles ASKO (NL), Icebreaker (UK), Ensemble Integrales (D und MAE (NL), bei dem er gleichzeitig künstlerischer Leiter ist. Weiterhin arbeitet er zusammen mit musikFabrik (D), Orkest de Volharding (NL), Nozferatu (UK), Palmos (Gr), London Sinfonietta (UK), LOOS (NL), Percussion Group Den Haag (NL), Zephyr Quartet (NL), Esprit Ensemble (CA), Nsemble (RU), Ensemble Cantus (Cr) und anderen. Er ist Teil der Amsterdamer elektronischen Impro Szene, spielt im Duo Red v Green mit Andy Moor (the EX) und ist Mitglied der Tanzimprovisationsgruppen Magpie Music Dance und Co-Inc.

Kyriakides schrieb mehr als fünfzig Kompositionen, darunter neue großangelegte Werke wie "Strobo" (30 Min.) für sechs Perkussionisten, Glas und Stroboskop; "Scape" (80 Min.) für Video und Ensemble; das Musiktheater "Spinoza (or I am not where I think myself to be)" (90 Min.); "Subliminal: the Lucretian Picnic" (45 Min.) für Ensemble, Video, Live-Elektronik; das Auftragswerk der BBC "Lab Fly Dreams" (25 Min.) für Ensemble und Elektronik; das Musiktheater "the Buffer Zone" (60 Min.); das Musiktheater "Escamotage" (70 Min.); die zwölf elektronischen Portraits für Kopfhörer und PA "Wordless" (50 Min.) sowie die sechs Stücke für Ensemble und Videotext "Dreams of the Blind" (45 Min.).

Im September 2000 erhielt er den Gaudeamus Kompositionspreis für "a conSPIracy cantata", das von The Wire als "modern classic in the making" bezeichnet wurde. Die Komposition "Wordless" erhielt eine Ehrenvolle Nennung beim Prix Ars Electronica 2006. Zusammen mit Andy Moor und Isabelle Vigier gründete und leitet er das CD Label UNSOUNDS für innovative neue elektronische Musik. Kyriakides lehrt am the Royal Conservatory of Music in Den Haag.


Die musikFabrik ist ein internationales Solistenensemble für zeitgenössische Musik. Es gibt Konzerte bei Festivals und Veranstaltern wie Berliner Festwochen, Festival Musica Strasbourg, UltraSchall Berlin, Brooklyn Academy of Music NewYork, Muziekgebouw Amsterdam, Schleswig-Holstein Musik Festival, RheingauMusik Festival, Huddersfield Contemporary Music Festival, Beethovenfest Bonn, Kölner Philharmonie, Westdeutscher Rundfunk Köln, Berliner Philharmonie, Konzerthaus Berlin, Philharmonie Essen, CitŽ de la Musique Paris, Oper Bonn, Konzerthaus Dortmund, Concertgebouw Amsterdam und Tonhalle Düsseldorf. Die musikFabrik arbeitet mit international renommierten Künstlern zusammen, wie mit Mauricio Kagel, Hans Zender, Karlheinz Stockhausen, Helmut Lachenmann, Peter Eötvös, Nicolaus A. Huber, Louis Andriessen, Rebecca Saunders, Emmanuel Nunes, Stefan Asbury, Peter Rundel, Kasper de Roo, James Wood und Diego Masson. Neben der klassischen Moderne und zeitgenössischen Werken, darunter regelmäßig Kompositionsaufträge der musikFabrik, bilden die Auseinandersetzung mit modernen Kommunikationsformen sowie experimentelle und interdisziplinäre Projekte mit Live-Elektronik, Installationen, Tanz- und Musiktheater einen Schwerpunkt. Die musikFabrik realisiert zahlreiche Audioproduktionen für den Rundfunk und für CD-Veröffentlichungen. Seit der Saison 2003/2004 spielt das Ensemble Uraufführungen von Auftragswerken in Zusammenarbeit mit der Kunststiftung NRW in der Reihe "musikFabrik im WDR". Die musikFabrik hat ihren Sitz in Köln und wird seit der Gründung 1990 durch das Land Nordrhein-Westfalen unterstützt.

Die Besetzung der musikFabrik
Helen Bledsoe | Flöte
Peter Veale | Oboe
Carl Rosman | Klarinette
Alban Wesly | Fagott
Christine Chapman | Horn
Marco Blaauw | Trompete
Bruce Collings | Posaune
Melvyn Poore | Tuba
Ulrich Löffler | Klavier
Dirk Rothbrust | Schlagzeug
Hannah Weirich | Violine
Axel Porath | Viola
Dirk Wietheger | Violoncello
Michael Tiepold | Kontrabass



Slot 2: Piano+
Michael Edwards

I kill by Proxy I-VI
für Klavier, Schlagzeug und Computer / 2006-07 / 01:01:53
Konzertmitschnitt der Uraufführung vom 13.12.2007 aus dem ZKM_Kubus im Rahmen des Festivals Piano+

Teil I / 03:14
Teil II / 12:47
Teil III / 01:53
Teil IV / 09:29
Teil V / 02:40
Teil VI / 32:00

Klavier: Sarah Nicolls
Perkussion: Stephan Froleyks
Elektronik: Michael Edwards und Götz Dipper
Klangregie: Thomas Saur


Ich las irgendwo, dass wenn wir einen Anführer wählen, wir die Person aussuchen, die in unserem Namen mordet. Es ist eine Überlegung, die leicht von der Hand zu weisen ist, aber wenn man darüber nachdenkt, gibt es heutzutage immer noch furchtbar viel Morden durch große Militärorganisationen. Die Tage des Wilden Westens und der Kreuzzüge mögen vorüber sein; die Vorstellung eines Krieges innerhalb der eigenen Grenzen eines "zivilisierten" Landes mag unwahrscheinlich sein; aber dennoch, einige dieser Länder, mein eigenes eingeschlossen, vergießen viel Blut in etlichen Teilen der Welt. Jene Länder, die das Töten ausüben, sind normalerweise relativ wohlhabend; jene die sterben, arm. Es ist nicht schwierig, den Zusammenhang zu sehen. Wie Balzac schrieb: "Das Geheimnis großen Wohlstandes ohne sichtbare Quelle ist irgendein vergessenes Verbrechen, vergessen, weil es geschickt verübt wurde."

In Auftrag gegeben vom Zentrum für Kunst und Medientechnologie (ZKM) Karlsruhe, Deutschland, ist I Kill by Proxy (wenn ich wähle, wenn ich einkaufe) eine Komposition für Klavier, Schlagzeug und Computer zwischen 60 und 75 Minuten (in der vollständigen Version). Komplett auskomponierte und improvisierte musikalische Strukturen mischend, wird die beachtliche Länge dieses Werkes durch eine Unterteilung in mehrere Abschnitte aufgebrochen, von denen die Hauptteile ein Solo für Schlagzeug, ein Solo für Klavier und ein Duett für Klavier und Schlagzeug sind. Die Übergänge zwischen den Stücken werden improvisiert, so dass ein durchgängiges Werk ohne Pausen entsteht. Ungeachtet dieses Aufbaus können die einzelnen auskomponierten Abschnitte separat in einem anderen Kontext und Programm aufgeführt werden.
Der Computer-Part kombiniert Echtzeit-Klangbearbeitungstechniken mit einem Playback von vorproduzierten Sound Files. Die Quellen für diese Sound Files sind hauptsächlich Schnipsel von Aufnahmen der instrumentalen Parts des Stücks, angeordnet und bearbeitet von den selben Algorithmen, die dabei halfen, jene Parts zu generieren.

Wie mein gesamtes kompositorisches Werk seit 2000 wurde I Kill by Proxy mit meiner eigenen algorithmischen Kompositionssoftware komponiert. Object-oriented Common Lisp wurde hauptsächlich während und dank zwei Gastkünstlerstipendien in den Sommern 2000 und 2001 am ZKM entwickelt. Die Software befindet sich fortwährend in der Weiterentwicklung. Für I Kill by Proxy wurde der Fokus beim Programmieren auf neue Pitch-Selection Algorithmen gelegt.

Vielen Dank (wie immer) an Bill Schottstaedt von der Stanford University für die CLM Software, mit der der überwiegende Teil der Signalverarbeitung der Klänge ermöglicht wurde; und an die Camargo Foundation für einen wundervollen Gastkünstleraufenthalt in Cassis, Frankreich, wo das meiste der kompositorischen Arbeit vollbracht wurde.
(Michael Edwards)


Michael Edwards
Geboren in Chesire, England, 1968. Studierte Oboe, dann Komposition an der Bristol University bei Adrian Beaumont (1986-91): privat bei Gwyn Pritchard; und Computermusik bei John Chowning am CCRMA, Stanford University (1991-96). Consultant Software Engineer im Silicon Valley (1996-97); Gastprofessur an der Universität Mozarteum Salzburg (1997-2002); augenblicklich Dozent an der University of Edinburgh.
Kompositorische Interessen liegen in der Entwicklung von algorithmischen Kompositionsstrukturen für Instrumentalmusik und die Einbindung dieser in ähnlich generierten computerbearbeiteten Klangstrukturen und Live-Elektronik. Außerdem aktiv als Imrovisator an Laptop, Saxophonen und MIDI Wind Controller.


Hören Sie Mitschnitte aus dem vielfältigen Konzertbetrieb im ZKM-Kubus sowie künstlerische Eigenproduktionen des ZKM | Institut für Musik und Akustik.