ZKM | Musik Aktuell
Woche 30-36 / 28.07. - 07.09.08
Slot 1: Portrait Gilles Gobeil
01. Entre les deux rives du printemps / 18:07
02. Ombres, espaces, silences / 22:45
03. Le miroir triste / 13:42
Alle Werke wurden am ZKM produziert
Werkbeschreibungen:
Entre les deux rives du printemps - Freie Annäherung an das Paradies (Teil III der
Göttlichen Komödie) von Dante (1265-1321)
ist ein Poem der Geschwindigkeit, Lichtgeschwindigkeit,
Energie... Ich wollte auf symbolische Weise Dantes Führerin Beatrice in der Reise durch die
Himmel würdigen. Zu diesem Zweck konstruierte ich das Stück mit langsam wechselnden Bewegungen
von Spannung und Entspannung, die entsprechend den Bewegungen des Aufstiegs, der Geschwindigkeit,
des Lichts erklingen und sich im Gedicht wiederfinden.
Gilles Gobeil vergleicht seine Arbeit als Klangkünstler mit der eines mittelalterlichen
Steinmetz, der das Material an den Bruchstellen prüft. Er bevorzugt kantige, klar konturierte
Formen, liebt die Dynamik von Spannung und Entspannung und ist geradezu besessen von extremen
akustischen Texturen.
Ombres, espaces, silences
Das Werk ist quasi ein Rückblick auf die frühe Polyphonie (Ars Antiqua, Ars Nova, bis zum
14. Jahrhundert). Diese "Welt der Intervalle" mit der erweiterten "Welt der Geräusche"
zu verbinden, faszinierte mich. Ich wollte in dieser "Welt der Geräusche" Fragmente der ersten
Momente der westlichen Musik im eigentlichen Sinne zeigen, oder noch eher, auf eine poetische
Weise evozieren. Die Welt der Geräusche steht hier für ein faszinierendes Phänomen der
christlichen Geschichte, nämlich dem der Einsiedler, der "Wüstenväter" der frühesten
christlichen Zeit. Diese Männer brachen freiwillig mit der Gesellschaft ihrer Zeit, da sie
glaubten, dass sie nur außerhalb menschlicher Gemeinschaft, in der Isolation, die Antwort der
menschlichen Bestimmung finden konnten. Am Rande der profanen Welt wollten sie eine ideale und
heilige Gemeinschaft bilden. Dieser Rückzug bedeutete, dass sie sich geradezu unmenschlichen
Bedingungen aussetzten; sie wohnten in Höhlen, in Sandlöchern, in hohlen Bäumen oder auf
Säulen; sie praktizierten äußerste Askese und setzten sich selbst großen Qualen aus
(langes Fasten, Schweigen, Stillhalten Schlafentzug) ; das alles mit dem Ziel, ihre weltliche
Persönlichkeit zu zerstören und eine neue aufzubauen. In mehreren Szenen versuchte ich, das
Leben dieser außergewöhnlichen Menschen heraufzubeschwören, ihren religiösen Eifer (ein Eifer,
der immerhin die erste polyphone Musik hervorbrachte), indem ich natürlich tatsächliche Orte
evozierte (wie die sengende, qualvolle Wüste), aber auch, indem ich ihre fantastische spirituelle
Imagination versuche darzustellen.
Le miroir triste
ist eine Art Kino für die Ohren. Das Stück basiert auf ein nicht umgesetztes
Projekt von Andrej Trakovsky: Hoffmanniana (1975). Ich habe mich davon inspirieren lassen.
(Alle Texte von Gilles Gobeil)
Gilles Gobeil studierte Komposition an der Université de Montréal. Er gehört zu den bedeutendsten
Vertretern der kanadischen akusmatischen Musik. Zahlreiche internationale Preise und
Auszeichnung: "Métamorphoses" der Biennale für Akusmatische Musik, Belgien (2002, 2000); CIMESP
(Internationaler Wettbewerb für Elektroakustische Musik São Paulo, Brasilien, 2001, 1999, 1997);
Ciber@rt (Valencia, Spanien, 1999); Internationaler Wettbewerb für Elektroakustische Musik
Bourges (Frankreich, 1999, 89, 88); Stockholmer Preis für Elektroakustische Musik (Schweden,
1997, 94); Ars Electronica, Linz (Österreich, 1995); Internationaler Luigi Russolo Wettbewerb,
Varese (Italien, 1989, 88, 87); Newcomp Computer Music Competition (USA, 1987) und Brock
University Tape Music Competition, St. Catharines (Canada, 1985). Weitere Ehrungen sind u.a.
1993 der "Grand Prize" der SOCAN (der kanadischen Verwertungsgesellschaft); 1985 der "Robert
Fleming Prize" des Canadian Music Council; und 1984 der "Composition Award" der SDE
(einer ehemaligen kanadischen Verwertungsgesellschaft) in 1984. Seine Werke werden in Kanada
und weltweit aufgeführt. Gilles Gobeil ist Mitglied der Canadian Electroacoustic Community
(CEC), Associate Composer des "Canadian Music Centre (CMC) und Mitbegründer der
Konzertorganisation "Réseaux".
Slot 2: Portrait Bernd Leukert
01. Hello Morty / 2005 / 10:09
02. Auf der Rückfahrt von Donaueschingen / 2007 / 13:15
03. In a way / 15:56
04. Variations pour une porte soupirante / 2008 / 12:05
05. Was ich im Apfelfasse hörte / 2006 / 49:59
Werkbeschreibungen:
Hello Morty (2005)
In einer öffentlichen Podiumsdiskussion in Frankfurt äußerte sich Morton Feldman herablassend
über die europäische Musiktradition. Besonders unverständlich nannte er das Werk Dmitri
Schostakowitschs. Und um die Unsinnigkeit dieser Musik zu demonstrieren, sang er laut ein
Fanfarenmotiv. Kurz: Das Motiv findet sich bei Schostakowitsch nicht. Wo es herkommt - was
Feldman sicher nicht bewußt war - hört man in "Hello Morty". Bis auf wenige Akzidenzien ist
das gesamte Klangmaterial von dieser gesungenen Fanfare abgeleitet.
Auf der Rückfahrt von Donaueschingen (2007)
Eine privates Eisenbahnunternehmen betreibt eine tägliche Verbindung von Donaueschingen nach
Karlsruhe. Wer gerade von den Donaueschinger Tagen für Neue Musik kommt und mit den
entweichenden Höreindrücken im Sinn in den alten Waggons dem periodischen, irregulären
Stoßen der Räder an den Gleislücken lauscht, dem Klappern und Klirren der Kupplungsgelenke,
dem Ächzen, Knirschen und Quietschen der Gummimanschetten zwischen den Waggons in den Kurven
oder den durch Landschaft, Begrenzungsmauern oder Tunnels bewirkten Farbwechseln des
Fahrrauschens, der wird eingehüllt in eine unberechenbare und hypnotische industrial music,
die das Ausgangsmaterial des Hörstücks "Auf der Rückfahrt von Donaueschingen" bildet. Nach
Dekonstruktion, vielfacher Bearbeitung und neuer, am Spiel der Register orientierter Montage
ist ein trügerisch "natürlicher" Klangverlauf entstanden, der mit Hilfe eines denaturierten
Vokalsamples den Zug aus dem Gleis in Sphären führt, die sich ganz jenseits von Donaueschingen
befinden.
In a way
Der israelische Musikerkomponist Dror Feiler, der als Fallschirmspringer im
arabisch-israelischen Krieg von 1969-1972 Dienst tat, erleben mußte, wie seine Kameraden
starben, und selbst tötete, ließ sich danach in Stockholm nieder. Mit den Schweden, an deren
letzte Kriege sich niemand mehr erinnern kann, konnte er sich über seine Erlebnisse nicht
austauschen. In einem Interview sprach er deshalb mit großer Emphase den Satz: "In a way I
can share this experience with murderers!" ("Ich kann gewissermaßen diese Erfahrung mit Mördern
teilen!") - Das einzige Quellmaterial des Stückes "In a way" ist dieser Satz.
Variations pour une porte soupirante (2008)
Pierre Henrys "Variations pour une porte et un soupir" aus dem Jahre 1963 brachte mich auf den
Gedanken, ausschließlich das Klangmaterial meiner seufzenden Haustür zu variieren. Mit der
Originalaufnahme endet das Stück.
Was ich im Apfelfasse hörte (2006)
Der Titel ist eine Kapitelüberschrift der "Schatzinsel". Robert Louis Stevenson erzählt darin,
wie der Schiffsjunge Jim Hawkins an Deck der "Hispaniola" in einem Apfelfaß träumt und bemerkt,
wie dieses Faß von Schiffsleuten umlagert wird, die sich dort als Piraten zu erkennen geben und
planen, den Schiffseigner, den Kapitän und ihn, Jim Hawkins, auf der Rückfahrt von der
Schatzinsel über Bord zu werfen. Jim im Faß hört nur, sieht aber nichts. In meinem Hörstück
drängen sich in das Gehörte Träume, Erinnerungen, Visionen - nichts Zusammenhängendes mehr,
aber alles dem musikalischen Verlauf unterworfen.
Dr. Bernd Leukert, geb. 1947 in Köthen/Anh., studierte Musikwissenschaft und Germanistik in
Heidelberg und Frankfurt am Main, arbeitete als Journalist und Schauspieler, schrieb Hörspiele
und Kurzgeschichten. 1982 Promotion (Diss. "Die gesellschaftliche Isolation und das
Selbstverständnis des Komponisten der Gegenwart"); seit 1977 freier Autor (FAZ, hr),
Redakteur (1979 taz, 1983 Frankfurter Hefte), 1980 Herausgeber des Fischer-Taschenbuchs
"Rock gegen Rechts. Musik als politisches Instrument"; 1990 Musikredakteur beim hr, ab 1995
auch als Produzent verantwortlich für die zeitgenössische Musik; 2006 Herausgeber des
DuMont-Taschenbuchs "Beginner Studio (W. Zimmermann)" in der Reihe "Energien/Synergien".
Seit 2007 freier Autor und Lautsprecherkomponist.
(Alle Texte von Bernd Leukert)
Hören Sie Mitschnitte aus dem vielfältigen Konzertbetrieb im ZKM-Kubus sowie künstlerische Eigenproduktionen des ZKM | Institut für Musik und Akustik.