Studioforum

Februar / März 2012

Portrait Marcel Saegesser
Eine Sendung von Michael Harenberg

1) The Last Place (Left)
2) was bedrückt dich? - Eine Nachtmusik
3) südwärts
4) stutzen/stopfen/strecken - un/schönes
5) stutzen/stopfen/strecken - getriebene/verschoben
6) STAUBBEDECKTER HIMMEL


THE LAST PLACE (LEFT)
Baritonvioline: Katryn Hasler
Akkordeon: Florine Juvet
Electronics/Komposition: Marcel Saegesser

Mit THE LAST PLACE (LEFT) schafft der Berner Komponist Marcel Saegesser eine fragile Klanglandschaft, die Gewohntes in überraschendes Licht rückt. Der bewusste Verzicht auf Virtuosität und Melodik richtet den Fokus gänzlich auf das Innere des Klangs selbst und auf die durch Primzahlen gewonnenen Rhythmen. Subtil gearbeitete elektronische Klänge vermengen sich untrennbar mit Baritonvioline und Akkordeon. THE LAST PLACE (LEFT) ist gleichzeitig maschinelle Poesie und grooviger Klangteppich.

Die CD THE LAST PLACE (LEFT) erschien im Oktober 2011 auf Tonus Music Records. Fotografien der Installation INTENTS von Anna Schölß bereichern als Artwork die CD.
Sie ist bestellbar auf http://www.tonus-music-records.com

was bedrückt dich? - Eine Nachtmusik
Theatrale (Klang-)Installation mit 18 sinnlosen Maschinen
Installation/Maschinen: Flurin Madsen
Klanginstallation/Komposition: Marcel Saegesser

Man begibt sich mal wieder, entspannt und gespannt, zum Theater der Künste in Zürich, idyllisch an der Sihl gelegen, und freut sich auf einen neuen Theaterabend. Vor dem Haupteingang wehen Flaggen mit dem Titel. Im Foyer befindet sich das Theaterpublikum versammelt bei einem Küpli, Zigaretten rauchend, smalltalkend, sich gegenseitig begutachtend und anlächelnd. Die Schauspieler wurden ersetzt durch Maschinen. Maschinen, die menschliche standardisierte Tätigkeiten/Gesten/Zeitvertriebe nachahmen. An 15 Tischen sitzten sie: Rauchen eine Zigarette, schütteln die Hand, nicken mit dem Kopf, rütteln am Tisch, schaukeln mit den Beinen, verschieben nervös den Stuhl, schminken sich die Lippen neu. Das Licht ist hell, der Lärm der Maschinen laut.

Plötzlich erschlaffen die Maschinen, die Lichter gehen aus, ein Theatervorhang schließt sich. Ein Signalhorn erklingt: Alarm. Die Grundfrequenz der Maschinenmotoren, ein tiefer, angenehmer Sound, wird hörbar. Ein violetter Verfolger geht an, richtet sich auf das Signalhorn, es entsteht intime Zweisamkeit. Und langsam beginnen sich ganz vorsichtig die andern Maschinen dazu zu gesellen. Die Bewegungen sind nur noch klein, nicht mehr so hektisch wie vorher. Und jeder Klang ist aufgeblasen, ist unüberhörbar. Das Publikum findet sich in einer Welt aus sanften Klängen, die subtil rhythmisiert sind, während die Maschinen dazu Ballett tanzen.
Bis sich der Vorhang öffnet, ein selbständiger Stuhl zu steppen beginnt und dazu eine gehauchte Melodie vernehmbar wird. Absurd, grotesk, und die Melodie erinnert an einen Popsong. Ein Popsong, dem es an irgendetwas fehlt, ganz offensichtlich. Der Text ist weg, a capella Begleitung ist als einziges übrig geblieben. Der Vorhang schließt sich wieder, die Maschinen verfallen in die hektische Stimmung, es wird hell – das Spiel geht wieder von vorne los.

Die musikalische Ebene dieser theatralen Installation arbeitet mit den Geräuschen, welche die Maschinen produzieren. Alle 18 Maschinen sind mit einem Piezo-Tonabnehmer ausgestattet. Ein Max/MSP-Patch nimmt diese Klänge in Echtzeit auf, platziert sie immer neu im Raum. Harmonisch werden die Motorenklänge entlang der Naturtonreihe (bis zum zehnten Oberton) transponiert, nach einem algorithmischen System. Auch die Tonlängen sind algorithmisch gesteuert. Ein Puls bildet ein Raster, auf dem dann Primzahlen-Dauern abgemessen werden. So klingt die »Nachtmusik« bei jedem Durchgang der Endlosschlaufe anders.

südwärts
Violine: Katryn Hasler
Electronics/Komposition: Marcel Saegesser

Das Instrument als Generator von Klang, von höchst organischer Klangfarbe – im Kontrast zum einfachsten und statischen elektronischen Klang, dem Sinuston. Und in beiden Fällen: Ein Schalter, der den Schall mal passieren lässt, mal eben nicht, generiert aus dem Kontinuum Rhythmus. Eine Gratwanderung zwischen Klang und Groove, zwischen Sinnlichkeit und Präzision. Das Stück ist Resultat einer Faszination, die der Technik des harten Schnitts gilt. Es ist dies eine Technik, die aus dem Tonstudio stammt. Hart schneiden bedeutet, den Beginn und das Ende einer Aufnahme hart abzuschneiden – im Gegensatz zum üblichen Ein- und Ausblenden. Als Artefakt dieses Eingriffs bleibt eine extrem kurze und harte Attacke zurück, die sich musikalisch als perkussives Element einsetzen lässt. Südwärts bringt diese Technik aus dem Tonstudio auf die Bühne.

stutzen/stopfen/strecken - un/schönes
stutzen/stopfen/strecken - getriebene/verschoben

Komposition/Klanginstallation: Marcel Saegesser
Stimme: Stefanie Grubenmann
Harfe: Vittoria Buzzi

Ein kleiner beengender Raum, fast ganz ausgefüllt durch eine Harfe und zwei Performerinnen. Das führt gleich von Beginn weg zu engem Kontakt mit dem Publikum und kreiert Intimität. Denn um zu den Sitzplätzen zu kommen, müssen die Zuschauer erst den ganzen Raum queren, durch den eine Diagonale aus grossen Konservendosen führt.  Die Konservendosen nehmen im Stück, das als Endlosschlaufe konzipiert ist, eine prägende Rolle ein. Sinnbildlich für das Ewig-haltbar-Machen und für das Unvergängliche konservieren sie Töne, in dem sie zu Lautsprechern umgebaut wurden, die pro Dose die immer gleichen Sätze wiederholen und dabei materialabhängig auch immer wieder scheppern. Auf diese Weise wird Materialität respektive Oberfläche und Äusserlichkeit zum Thema. Andere Dosen klingen wie Sirenen, indem ihre Eigenresonanz genutzt wird („Dosen-Monochorde“). Dieses Zusammenspiel wird erweitert und ergänzt mit der Stimme der Performerin Stefanie Grubenmann, den von der Harfenistin Vittoria Buzzi erzeugten Tönen und der computergenerierten Musik. Die Materialität wird in Klang umgesetzt, die Musikerinnen reagieren darauf. Gegensätze also, sie dominieren stutzen/stopfen/strecken. Eine Gratwanderung zwischen Natürlichkeit und Künstlichkeit, zwischen schön und unschön, kitschig und hässlich, die durch die besondere Synthese von Text, Klang, performativer Elemente und Licht entsteht. Der Komponist Marcel Saegesser hat „hässliche“ Stimm- und Harfenlaute zusammengefügt und so eine grotesk schöne Musik kreiert, die immer mal wieder das Hässliche zum Thema macht.

STAUBBEDECKTER HIMMEL
Klangskulptur mit Baritonvioline, Akkordeon, Elektronik und verdeckten Lautsprechern
Entstanden für die belebte Installation „Cover (me) and see (sea)“ von Anna Schölß und Nela Adam für die Museumsnacht 2011 in München.
Baritonvioline: Katryn Hasler
Akkordeon: Florine Juvet
Komposition & Elektronik: Marcel Saegesser

STAUBBEDECKTER HIMMEL ist die akustische Erweiterung der Installation „Cover (me) and see (sea)“ von Anna Schölß und Nela Adam. Die drei MusikerInnen verteilen sich mit ihren Instrumenten (Baritonvioline, Akkordeon und Laptop) in dem mit Tuch abgedeckten Hotelzimmer. Fünf Lautsprecher werden im Raum verteilt unter dem Tuch versteckt.
Während der Live-Performance spielen die Akkordeonistin und die Violinistin lang gehaltene Töne, Texturen und Slow-Motion-Rhythmen, abwechselnd in pfeifend hoher Lage und in tiefster Basslage. Durch Mikrofone gelangen diese Töne in den Computer. Die einzelnen Aufnahmen werden in ein algorithmisches System geschickt, welches sie zeitlich und räumlich neu strukturiert und schließlich über die versteckten Lautsprecher wiedergibt.

Die von den beiden Musikerinnen erzeugten Klänge unterscheiden sich stark von den Klängen aus den Lautsprechern, obwohl das Klangmaterial das gleiche ist. Das live Gespielte ist klar, direkt und bekommt durch die Anwesenheit der Musikerinnen eine körperliche Präsenz. Die gleichen Klänge aus den Lautsprechern sind dumpf (gedämpft durch das Tuch), einem artifiziellen Zeitverlauf unterzogen (Tonanfänge und Enden abgeschnitten), räumlich stark bewegt und körperlos (Klangquellen nicht sichtbar). Die Divergenz der beiden Klanglichkeiten baut ein zusätzliches Spannungsfeld auf. Der direkte Live-Klang steht für das Hier und Jetzt, während der ferne und gedämpfte Lautsprecherklang aus einer anderen Welt zu kommen scheint – vielleicht aus der Welt der privaten und intimen Hotelgeschichten und -erinnerungen.

STAUBBEDECKTER HIMMEL ist eine Klangskulptur, die sich langsam aufbaut und fast unmerklich verändert. Die quasi statischen Klangzustände lassen dem Betrachter Zeit, die Verbindung von Raum-Installation-Licht-Video-Klang-Performance wirken zu lassen. Die scheinbar einfach zu spielenden Klänge fordern von den MusikerInnen einen extremen Grad an Konzentration und Präzision, wodurch die Live-Performance eine körperliche wie klangliche Spannung ausstrahlt. Nach der Live-Performance, die jeweils 20 Minuten dauert, verlassen die Musiker den Raum. Die Klänge aber bleiben zurück, klingen endlos weiter, sich minimal verändernd, und überdecken die reale Geräuschwelt des Hotelzimmers.

Marcel Saegesser
Komponist und Medienkünstler, lebt und arbeitet in Bern.
Studium der 'Musik und Medienkunst' an der Hochschule der Künste Bern sowie bis 2010 Studium der elektroakustischen Komposition bei Kaspar Ewald und Germán Toro-Pérez an der Zürcher Hochschule der Künste.
Im Vordergrund seiner Arbeit stehen Kompositionen und Klangcollagen mit akustischen Instrumenten in Verbindung mit radikalen elektronischen Verfremdungsverfahren und auch reine Samplingmusik. Ein grosses Interesse gilt der Disziplin übergreifenden Zusammenarbeit mit Szene, Sprache, Stimme, Tanz, Bewegung, Bild und Raum.
Sein Schaffen reicht von Theater/Tanz/Filmmusik über experimentelle Hörspiele bis hin zu Klanginstallationen und Klangkunst.
Assistenzen und Praktika u. a. für Peter Scherer in New York (2006) und Roland Dahinden (seit 2008).
2008 Kompositionsstipendium der Schweizerischen Autorengesellschaft für die Komposition zum Tanztheater DorFMoRD am Tanzhaus Zürich. 2009 Composer in Residence am Komponistenforum Mittersill OE, 2010 erneutes Stipendium für das interdisziplinäre Projekt stutzen/stopfen/strecken und Preis der Kiefer Hablitzel Stiftung fürs bisherige kompositorische Schaffen. 2011/12 Atelieraufenthalt am Istituto Svizzero in Rom.
http://www.marcelsaegesser.com/


Elektronische Studios aus ganz Deutschland und dem Ausland werden hier portraitiert und stellen ihre aktuellen Projekte, Forschungsvorhaben und Entwicklungsarbeiten vor. Das Studio-Forum dient langfristig dem Austausch zwischen den Studios als Produktionsstätten vielfältiger elektroakustischer Musik und Klangkunst.