Berichte/Features
Juni / Juli 2012
Hörbare Ökosysteme von Agostino Di Scipio
1. Texture / Multiple / 1993 / 12:25
Sechs Instrumente, raumabhängige Signalprozesse
Ensemble Mosaik: Bettina Junge, Bassflöte; Christian Vogel, Bassklarinette;
Chatschatur Kanajan, Violine; Dirk Beiße, Violoncello; Ernst Surberg, Klavier; Roland Neffe, Vibraphon.
2.-3. Craquelure (2 pezzi silenziosi, a Giuliano) / 2002 / 05:00 - 05:01
Klangsynthese, raumabhängige Signalverarbeitung
4.-8. 5 interazioni cicliche alle differenze sensibili /1997-98 / 01:37 - 02:20 - 02:13 - 02:18 - 03:00
Streichquartett, raumabhängige Signalverarbeitung
Quartetto Prometeo: Francesco Peverini, Violine; Aldo Campagnari, Violine; Carmelo Giallombardo, Viola; Francesco Dillon, Violoncello
9.-13. Audible Ecosystemics / 2002-2005 / 34:23
Live-Elektronik
09. n.1 (Impulse Response Study) / 08:16
10. n.2a (Feedback Study) / 05:50
11. n.2b (Feedback Study, with Vocal Interferences) / 04:40
12. n.3a (Background Noise Study) / 06:55
13. n.3b (Background Noise Study, with Mouth Performer Natalia Pschenitschnikova) / 08:42
Klangsynthese und Signalverarbeitung wurden vom Komponisten unter Verwendung der digitalen Audio-Plattform "Kyma"
vorbereitet und eingespielt.
[1] Vivaldisaal, Berlin, 14. Februar 2005. Aufnahme: Christian Feldgen.
[2] Privatstudio des Komponisten, L'Aquila.
[3] Auditorium der University of Illinois School of Music, Urbana-Champaign, 30. Oktober 2003.
[4-8] Kirche Santa Caterina, L'Aquila, 1998, Istituto Gramma. Aufnahme: Ignazio Prignano.
[9] Sophiensäele, Berlin, 29. Mai 2004, Festival Inventionen.
[10] Kirche Santa Caterina, L'Aquila, 29. August 2003. Istituto Gramma.
[11] Mit Teilnehmern der Sommerschule "Media and Beyond. Corporealities and Crises" des internationalen Promotionsprogramms "Performance and Media Studies" an der Johannes-Gutenberg-Universität Mainz, Alte Mensa der Johannes-Gutenberg-Universität, 30. Juni 2004.
[12] Privatstudio des Komponisten, Berlin, 21. Januar 2005.
[13] Elektronisches Studio der Technischen Universität Berlin, 4. Februar 2005.
Endabmischung: Elektronisches Studio der Technischen Universität Berlin, Januar, Februar, März 2005.
Agostino Di Scipio, geboren 1962 in Neapel, befasste sich zunächst autodidaktisch mit Musik und studierte dann
(ab 1984) elektronische Musik und Komposition am Konservatorium von L'Aquila (Italien) bei Michelangelo Lupone, Giancarlo Bizzi
und Mauro Cardi. Arbeitsgebiete: Komposition, Forschungen zur Computermusik, und zur Analyse und Theorie musiktechnologischer
Entwicklungen.
In seinen Kompositionen arbeitet er häufig mit Netzwerken klanglicher Echtzeit-Interaktionen zwischen Performern
(Instrumentalisten und anderen), Maschinen und Umgebungen; die verwendeten Instrumental-, digitalen Klang-Synthese und
-Verarbeitungstechniken sind häufig inspiriert von Phänomenen wie Rauschen oder Turbulenz. Di Scipio komponierte auch
zwei groß angelegte Werke an der Schnittstelle von "elektronischem Kammermusiktheater" und "Dichterlesung
mit elektronischen Klängen": Sound & Fury (1995-98) und Tiresia (2001, zusammen mit dem Dichter Giuliano Mesa).
Er erhielt zahlreiche Auszeichnungen und Stipendien; 2004 war er Gast des Berliner Künstlerprogramms des DAAD. Er arbeitet
im Wesentlichen im eigenen Studio, aber auch als Gast internationaler Institutionen im Bereich der elektroakustischen und
Computermusik. Er unterrichtet elektronische Musik am Konservatorium von Neapel und als Gastprofessor am Centre de
Création Musicale Iannis Xenakis (Paris-Alfortville), jüngst auch an der University of Illinois in Urbana-Champaign,
außerdem bei weiteren Bildungsinstitutionen in Europa und anderswo. Di Scipios Essays und Studien zur Geschichte und
kritischen Theorie musikalischer Technologien erscheinen in Fachzeitschriften ebenso wie in kulturwissenschaftlich breiter
angelegten Zusammenhängen, etwa in La Revue d'Esthétique (Paris) oder Angelaki (Oxford); als
Herausgeber betreute er italienische Übersetzungen der Schriften von Gottfried Michael Koenig (Genesi e forma, Rom:
Semar, 1995), Michael Eldred (Heidegger, Hölderlin & John Cage, Rom: Semar, 2000) und Iannis Xenakis
(Universi del suono, Mailand: LIM/Ricordi, 2003).
Weitere Informationen: http://xoomer.virgilio.it/adiscipi/
Das Ensemble Mosaik entstand 1997 aus einer Initiative junger Instrumentalisten und Komponisten in Berlin. Sein Interesse
gilt der Vielfalt ästhetischer Konzepte und Erscheinungsformen in der zeitgenössischen Musik. Um den einzelnen Werken
im Sinn einer zeitgenössischen Aufführungspraxis gerecht zu werden, arbeitet das Ensemble in engem Austausch mit den
Komponistinnen und Komponisten. Dabei bildet die Zusammenarbeit mit jüngeren, noch unbekannten Künstlern einen
deutlichen Schwerpunkt. Von den vielen von der Gruppe uraufgeführten Werken wurden zahlreiche für das Ensemble
komponiert.
Die in Moskau geborene Natalia Pschenitschnikova schloss ihr Flötenstudium am Tschaikovsky-Konservatorium mit
Auszeichnung ab. Neben ihrer Tätigkeit als Solistin und Ensemblemusikerin wirkte sie mit in Theater- und Tanzproduktionen
und trat als Performancekünstlerin auf. Als Solo-Flötistin und -Vokalistin konzertierte sie bei vielen bedeutenden
internationalen Festivals; zahlreiche Werke für Flöte und/oder Stimme wurden ihr zur Uraufführung anvertraut.
Das Prometeo-Streichquartett (Francesco Peverini und Aldo Campagnari, Violinen; Carmelo Giallombardo, Viola; Francesco
Dillon, Violoncello) hat seinen Sitz an der Musikhochschule von Fiesole und an der Accademia Chigiana in Siena. Das Quartett
wurde bei bedeutenden internationalen Wettbewerben vielfach ausgezeichnet und konzertiert in aller Welt; seine Einspielungen
wurden von zahlreichen Fernseh- und Rundfunkstationen aufgezeichnet und gesendet. Zu den von ihm uraufgeführten Stücken
gehören Werke von so bedeutenden italienischen Komponisten wie Salvatore Sciarrino, Ivan Fedele, Stefano Gervasoni und
Fausto Sebastiani.
"(...) agostino di scipios stücke sind so in einem empatischen sinne live-elektronisch, sie entstehen erst im vollzug.
ihre phonographische speicherung bietet nicht mehr (und nicht weniger) als die dokumentation jeweils einer instanz des
entsprechenden konzeptes, in einem bestimmten raum (nicht umsonst ist die rede von raumabhängiger oder raumgebundener
klangverarbeitung). das übersteigt die übliche differenz von werk und interpretation, mit der jede aufzeichnung
eines stücks musik sich auseinanderzusetzen hat. dies gilt um so mehr, als nun der klang selbst mit interpretativer
kompetenz begabt wird. denn: in einem weiteren schritt bringt agostino di scipio seinen klängen bei, sich selbst zu
hören. die den stücken zugeordnete digitale klangverarbeitung lauscht ihrerseits ihren eigenen ergebnissen und
modifiziert sich selbst, dem erlauschten gemäß, im verlauf der stücks. durch komplexe kybernetische verfahren
im innern der black box passt sich die software dem gehörten an, um unerhörtes zu erzeugen. mehr noch als in den
früheren, gemischten werken manifestieren sich solche rückkopplungen in den neueren stücken der reihe
"hörbare ökosysteme", die der vorliegenden auswahl ihren titel gibt. in diesen arbeiten dienen einfachste
schallsignale oder gar nur der geräuschhintergrund des die mikrophone beherbergenden raumes als input für
autopoietische prozesse, in deren verlauf die parameter der digitalen signalverarbeitung sich stets weiter den resultierenden
klangformen anpassen. durch solche rekursive iteration bringt sich klang mit sich selbst ins vernehmen. klänge horchen auf
sich selbst: das ist der fluchtpunkt von agostino di scipios schaffen, oder, in den worten des komponisten: "sound is the
interface".
frank gertich
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